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Tishe!
Um
doch noch am sozialen Leben teilzunehmen, haben die Vereinsamten die Möglichkeit
ihr Kissen auf ein Fensterbrett zu legen, sich darauf zu stützen und in
die Welt zu lehnen. Man sieht sie kaum mehr, denn die Funktion des Fensters
ging auf das Fernsehen über. Durch Victor Kosakovskys Dokumentarfilm wird
der Fernseher zum Medium des Fensters und enthüllt durch diese Regression
die Sehnsucht des Betrachters nach Teilhabe. Wie der Fotograf Jefferies in Hitchcocks
„Rear
Window“
beobachtete der Filmemacher das Geschehen vor seinem Fenster, allerdings für
ein ganzes Jahr. Von Jefferies wird behauptet, er sei in seinem voyeuristischen
Verhältnis zu den 31 geöffneten Fenstern Sinnbild des Cineasten. Kosakovskys
Kamera wird man hingegen kaum voyeuristisch nennen können. Alles was sie
zeigt, ist ohnehin öffentlich , mitunter sind sich die Protagonisten der
Kamera sogar bewusst. Liebespaare, Arbeiter, Polizisten; Eilende, Verwirrte,
Wartende. Obschon die Ereignisse keinen Bezug untereinander haben, so erscheinen
sie doch aufeinander bezogen, ähnlich den Fenstern im Hinterhof Hitchcocks.
Mehr noch, es lässt sich nicht vermeiden, die vereinzelten Szenen in einen
Zusammenhang zu stellen. Diese Wahrnehmungssituation berührt Fragen, die
dem Dokumentarfilm eigentümlich sind, insofern, als er meist auf gefundene
Bilder angewiesen ist, deren Zusammenhang er konstruiert oder erforscht.
Was
der russische Dokumentarfilmer vorfand, war zunächst eine Baustelle direkt
vor seinem Fenster. In den ohnehin schon sehr mitgenommenen Asphalt muss ein
Loch gerissen werden, um eine Wasserleitung auszubessern. Dies allerdings geschieht
so notdürftig und oberflächlich, dass der Vorgang über das Jahr
unzählige Male wiederholt werden muss. Das Loch wird tiefer und weiter,
wird wieder zugeschüttet und wächst dann scheinbar unkontrollierbar,
bis zuletzt die Straße von dampfendem Wasser überflutet ist. Man
ist versucht zu meinen, dies sei - das Loch und die Straße befinden sich
in Sankt Petersburg - eine glänzende Parabel auf die post-sowjetische Staatsordnung
und der ganze Vorgang somit ein glücklicher Fund des Filmemachers. Es hat
den Anschein, die gefilmten Bauarbeiten und ihre parabolische Ausdehnung seien
identisch. Und da die rezidive Wiederkehr des Loches das Rückgrat des Filmes
bildet, liegt die Vermutung nahe, dieser Fund mache den Film am Fenster erst
möglich. Dagegen lässt sich einwenden, dass Kosakovskys filmische
Arbeit uns die Baustelle erst als “glücklichen Fund” wahrnehmen lässt.
In
E.T.A. Hoffmanns Erzählung “des Vetters Eckfenster” weist ein alter, gelähmter
Poet seinen Vetter in die Kunst der Beobachtung ein. Von seinem Eckfenster ist
ein Markplatz zu übersehen. Einzelne Szenen werden von ihm herausgegriffen
und Mutmaßungen über deren Charakter angestellt. Seine Erzählungen
schmiegen sich derart an die beobachteten Ereignisse, dass sie ihren fiktiven
Charakter verlieren. Kosakovsky nimmt sich Hoffmann zum Vorbild, nur dass seine
Erzählung nicht ein dem Ereignis hinzugefügter Text ist. Kosakovsky
kann lediglich durch Konstellation und Kadrierung die Grenzen des Ereignisses
festlegen oder durch genuin filmische Mittel ihnen einen Charakter zuweisen.
Über den Klängen eines verstimmten Klaviers ergeht es so den Bauarbeitern,
deren Tun häufig in Zeitraffer gezeigt wird - eine Reminiszenz an den Slapstick
der Stummfilmära. Erst hierdurch erscheint ihre Arbeit als Sisyphos-Arbeit.
Um
dieses und weitere Ereignisse herum beschreibt Kosakovsky eine Bühne, die
nicht bloß dadurch definiert ist, dass die Kamera den immer gleichen Ausschnitt
zweier Straßen abtastet. Nicht anders als in den meisten Theaterstücken
wird, was sonst in der Zeit verstreut sein müsste, unter einen festen zeitlichen
Rahmen gespannt. In achtzig Minuten folgen in keiner Straße der Welt die
Jahreszeiten aufeinander. Der Raum füllt sich mit Wind, Regen, Schnee und
Blättern, als hätten diese ihre Grenze im Bildfeld.
Detailbeobachtungen
verwandeln gleichgültigen Asphalt und beliebige Hauswände in Haut:
Oberfläche mit Geschichte, Wunden und Erinnerung. So erhält der Raum
von einer Bühne zumindest die Markierungen. Neben
den Bauarbeiten kommen hier Miniaturdramen und Komponenten unbekannter Geschichten
zur Aufführung. „Tishe!“ liefert damit beiläufig den Beweis, dass
der Dokumentarfilm nicht von Realität handelt, zumindest nicht im Sinne
einer ungeschminkten Wahrheit. Denn hier ist alles geschminkt, inszeniert oder
geplant, wenn auch nicht von Kosakovsky selbst. Auf der Straße zeigt man
sich, entwirft sich und den Anderen. Man möchte gerne der starke Polizist
oder galante Gentleman sein. Dass solche Inszenierungen möglicherweise
misslingen, ist inbegriffen. Zugleich wird ein treffenderes Merkmal des Dokumentarfilms
offenbar. Er ist von Implosion bedroht. Der Druck eines unendlichen Offs macht
uns zu schaffen. In „Tishe!“ wird das Blickfeld ab und an von Menschen mit Bollerwagen,
Tüten oder Hunden durchquert. Sie rühren an Erinnerungen, die sich
nie ganz zuordnen lassen - vagabundierende Bilder. Solche Vagabunden sind im
fiktionalen Film im Wortsinn undenkbar.
Kosakovsky
ist ebenso wenig wie Jefferies ein Voyeur. Beide blicken auf Inszenierungen.
Jefferies ist , wo der Voyeur gerne wäre, alle Fenster geöffnet, alles
zu sehen. Nur, dort angekommen gleicht er eher einem Voyeur unter Voyeuren an
einem FKK-Strand, es gibt keine Versagung des Blickes mehr. Dasselbe gilt für
„Tishe!“. Alles, was wir sehen, ist dafür gemacht, gesehen zu werden. Anders
als in „Rear Window“ stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang der Bilder.
Hitchcock konnte einen solchen konstruieren. Bei „Tishe!“ suchen wir unwillkürlich
selbst danach: Sind nicht die Straßenfegerinnen Schuld am Rohrbruch, weil
sie den Gulli als Müllschlucker missbrauchen? Ist die Alte mit dem Hund
nicht Abbild der Zukunft der Kinder im Hintergrund? Mit seiner Anhäufung
von Geschichtsfragmenten lässt „Tishe!“ uns nahezu in Reinform erleben,
was den Dokumentarfilm oftmals so einzigartig macht: Er rührt an unsere
Erinnerung, an unser Weltbild, zersetzt und verformt es, offenbart dessen Kontingenz
und zuweilen auch dessen Rigidität. Vielleicht befreien deshalb die erspähten
Ereignisse den Poeten in Hoffmanns Erzählung von seiner Depression.
Axel
Lambrette
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.documentary-scene.de
Ruhe!
[Tishe!]
Russland
– 2002 – 79 min – Farbe
Regie:
Viktor Kosakovsky
Kamera:
Viktor Kosakovsky
Musik:
Alexander Popov
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