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Min
Dît
- Die Kinder von Diyarbakir
Eine
Geschichte aus dem kurdischen Teil der Türkei erzählt Miraz Bezar
in "Min Dît" und führt dabei vor, wie man ein Politdrama
auch machen kann.
Miraz
Bezars Debütlangfilm "Min Dît" spielt in Diyarbakir, einer
Großstadt im Südosten des Landes, die als inoffizielle Hauptstadt
des türkischen Kurdistans gilt. Ein Großteil der Einwohner spricht
hauptsächlich Kurdisch und so tauchen auch in Bezars Film lediglich ab
und an ein paar Brocken Türkisch auf. Das passiert dann aber an interessanten
Stellen. An einer Stelle fragt ein Mann einen anderen auf der Straße nach
Feuer. Dieses wird ihm erst gewährt, als er die Frage auf Türkisch
wiederholt. Und es gibt eine Prostituierte, die eigentlich den kurdischen Namen
Dilan trägt, sich für ihre Arbeit jedoch türkisch Dilara nennt.
Zwei
Kinder stehen im Zentrum des Films: Gulistan und ihr kleiner Bruder Firat. Zunächst
gibt es noch eine weitere Schwester im Säuglingsalter. Da die Mutter abends
erschöpft ist, hat sie eine Märchengeschichte auf Kassette aufgenommen.
Ihre elektronisch reproduzierte Stimme wiegt ihre Kinder in den Schlaf. Dieses
Detail nimmt nach einer Viertelstunde Laufzeit eine grundlegend neue Bedeutung
an: Beide Eltern werden gewaltsam aus dem Film entfernt, in einer schockierend
undramatisch gefilmten Szene, auf die vorher nicht viel hingedeutet hat, obwohl
politische Spannungen von Anfang an kommuniziert werden.
Jetzt
sitzen die Kinder alleine in der großen Wohnung und hören die Stimme
ihrer Mutter auf der Kassette, die alles ist, was ihnen von ihr geblieben ist.
Eine herzzerreißende Szene und der Film schlägt keinerlei ungebührliches
dramaturgisches Kapital aus ihr. Spätestens zu diesem Zeitpunkt weiß
man, dass Bezar die entscheidenden Dinge richtig macht in seinem Film. Die neue
Ausgangssituation erinnert an Horokazu Kore-edas "Nobody
Knows":
Drei Kinder, die eine neue Familiengemeinschaft bilden müssen und dabei
in Rollen schlüpfen, für die sie viel zu jung sind. Aber "Min
Dît" entwickelt sich schnell in eine andere Richtung. Denn die Geschwister
sind noch lange nicht ganz unten angekommen. Die Tante, eine militante Separatistin,
die sich eigentlich um die Waisen kümmern wollte, flieht ins schwedische
Exil, andere Verwandte suchen ihr Glück in Istanbul oder schlagen Gulistan,
wenn sie Hilfe sucht, die Tür humorlos vor der Nase zu. Keiner verschwendet
mehr als ein, zwei Gedanken auf ihr Schicksal.
Fast
mechanisch erzählt Bezar diesen Abschnitt seiner Geschichte und auch diese
Mechanik ist zwangsläufig, schließlich sind die Geschwister kein
Einzelfall, sondern stehen ein für tausende Kinder, die im Bürgerkrieg
in den kurdisch geprägten Gebieten der Türkei zu Waisen wurden und
der Verelendung anheim fielen. Das geht schnell, manchmal fast von Einstellung
zu Einstellung: Verkauf der Möbel, kein fließendes Wasser mehr, kein
Strom, schließlich keine Wohnung und erst recht kein Geld für Medikamente.
Der Tod der kleinen Schwester findet dann tatsächlich nur noch zwischen
zwei Einstellungen statt. Nach dem Schnitt sitzen Gulistan und Firat an ihrem
Grab. Jetzt leben sie auf der Straße und machen die Bekanntschaft mit
anderen Straßenkindern. Die ersten Versuche, Taschentücher und Feuerzeuge
an Passanten zu verkaufen, scheitern kläglich, aber schnell lernen sie
die Tricks des Geschäfts.
Der
Film macht aus all dem kein konventionelles Sozial- und erst recht kein Melodrama,
auch wenn er sich nicht davor scheut, einige Elemente des ersteren einzusetzen.
Die großartige Hauptdarstellerin Senay Orak etwa wird Bezar nicht zuletzt
aufgrund ihrer stets weit aufgerissenen Rehaugen gecastet haben. Aber wenn sie
bei einer Autofahrt die Hand aus dem Fenster streckt, um den Fahrtwind zu spüren,
oder auch wenn Firat so begeistert von seinem neuen Mikrofon ist, dass er die
Waren seines Straßenverkaufsstands lieber lang und breit anpreist, anstatt
sie zu verkaufen, dann taucht der Film ein ins Leben der Kinder über deren
Weltbezug und er ist denkbar weit entfernt von Sozialkitsch jeglicher Coleur.
Und
überhaupt macht der Film dann noch ganz andere Sachen. Der Mörder
der Eltern, Mitglied einer ultranationalistischen paramilitärischen Vereinigung,
taucht wieder auf und für beide Kinder stellt sich die Frage, auf welche
Weise sie ihre Lebenserfahrung in politisches Handeln übersetzen können.
Und obwohl sich der Film keine Illusionen macht über das zukünftige
Schicksal von Gulistan und Firat, konstruiert er am Ende das Bild einer radikalen
sozialrevolutionären Utopie: Straßenkinder mit Maschinengewehren.
Welcher Film der letzten Jahre hätte sich so etwas getraut?
Und
erst recht: welcher deutsche Film? Bezar ist Absolvent der Berliner Filmhochschule
dffb. Im Presseheft zum Film berichtet er, dass er nach seinem Studium einige
Jahre lang vergeblich versuchte, einen Spielfilm in Deutschland zu produzieren
und erst aus Frustration darüber, dass seine Vorstellung von Kino hier
nicht realisierbar war, in die Türkei ging. Bezar hat den Dreh größtenteils
aus eigener Tasche finanziert, für die post
production
bekam er Unterstützung von Fatih Akin und dessen Produktionsfirma corazon
international.
Die deutschen Filmförderinstitutionen hätten ihm, so steht zu vermuten,
das Drehbuch zu "Min Dît" um die Ohren gehauen. Aus den denkbar
falschesten Gründen, versteht sich: weil es sich weigert, die dem Leben
entlehnten Situationen dem billigen Effekt unterzuordnen und weil es da, wo
es diesen Situationen etwas Konstruiertes hinzufügt, das nicht in melodramatisierender,
sondern in politisch-agitatorischer Absicht tut.
Lukas
Foerster
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Min
Dît - Die Kinder von Diyarbakir
Deutschland
/ Türkei 2009 - Originaltitel: Min Dît - Regie: Miraz Bezar - Darsteller:
Senay Orak, Muhammed Al, Hakan Karsak, Berîvan Ayaz, Suzan Ilir, Fahriye
Çelik, Alisan Önlü, Berivan Eminoglu, Mehmet Inci - FSK: ab
12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 102 min. - Start: 22.4.2010
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