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Kleine Wunder in Athen
Stavros kann nachts nicht schlafen. Weil er seine Mutter,
die er nach einem Schlaganfall rund um die Uhr betreuen muss, nicht stören
will, verzieht er sich auf den Balkon, um sich stundenlang in seine Sammlung
von Rockmusik-Schallplatten zu vertiefen. Sein konstant melancholischer Gesichtsausdruck,
der verdächtig an Buster Keaton erinnert, spricht Bände. Obwohl ihn
seine Frau vor Jahren verlassen hat, liebt er sie noch immer, stattet ihr regelmäßig
einen Besuch ab und berichtet von seinen Befindlichkeiten. Tagsüber döst
der 50-Jährige mit Freunden in Plastikstühlen vor seinem Kiosk in
dem ruhigen Athener Stadtviertel Acadimia Platonos. Vom
Geist der antiken Philosophenschule ist in den Gesprächen der notorisch
nörgelnden Männer wenig zu spüren, und von Kundschaft kann auch
keine Rede sein. Dafür betreiben auch die anderen drei „Unternehmer“ kleine
Läden, deren Produkte niemand zu interessieren scheinen.
Die verschworene Gemeinschaft muss neuerdings näher
zusammenrücken. Albaner suchen als Arbeitsmigranten das Viertel heim. Umtriebige
Chinesen mieten in Familienverbänden sogar ganze Lokale, um italienische
Designermode zu verkaufen. Als auf dem kaum befahrenen Platz ein Denkmal für
„interkulturelle Solidarität“ errichtet werden soll, brausen die Emotionen
der sich an Nationalstolz überbietenden Freunde hoch und entladen sich
in einem infantilen Fußballspiel, das die Baustelle zum Einsturz bringt.
Als wären die globalisierten Zeiten für die stolzen Arbeitsverweigerer
nicht hart genug, glaubt Stavros’ apathische Mutter urplötzlich, in einem
Albaner ihren verlorenen Sohn zu erkennen. Sie spricht mit diesem perfekt albanisch,
lädt ihn überglücklich zu sich nach Hause ein und erklärt,
dass sie als junge Frau von Albanien nach Griechenland geflüchtet sei.
Schlimmer hätte es für Stavros nicht kommen können, zumal seine
Kumpel dem Dilemma, ausgerechnet einen verkappten Albaner zum besten Freund
zu haben, nicht gewachsen sind. Ihr Misstrauen geht sogar so weit, dass sie
dem von Identitätsfragen Geplagten beim Länderspiel untersagen, die
chauvinistische Hymne „Albaner, ihr werdet niemals Griechen sein“ mitzusingen.
Regisseur Filippos Tsitos, ein
gebürtiger Athener, lebt seit 1991 in Berlin, wo er an der dffb Regie studierte und mit „My Sweet Home“ (fd 35 237) 2001 im Wettbewerb der „Berlinale“ war. Seine zärtliche,
wunderbar lakonische neue Komödie versprüht den Charme eines frühen
Jarmusch oder Kaurismäki. Sie trumpft nie auf, ihre Bescheidenheit ist
ihre Stärke. Tsitos schneidet sie ganz auf das komödiantische Talent
des großartigen Hauptdarstellers Antonis Kafetzopoulos
zu, vertraut sich zu Recht ganz dessen mimischer Schwerkraft an. In dessen ausdrucksstarkem
Gesicht spiegelt sich das schwarze Loch von Stavros’ an Höhepunkten armer
Existenz, die vielen Kränkungen des männlichen Egos und die Ratlosigkeit
darüber, wie das eigene Leben zu bewältigen sei. Umso überraschter
ist man, als er nach der Beerdigung der Mutter und einer die Spannungen lösenden
Handgreiflichkeit mit dem neuen Bruder, wieder mit einem Lächeln um den
Mund schlafen kann. Endlich ruht er in sich selbst, auch wenn am nächsten
Tag das Zeittotschlagen wieder seinen gewohnten Lauf nimmt. Der Film erzählt
diese Selbstfindung so sicher und mitfühlend in seiner Anteilnahme an diesem
sympathischen Verlierer, dass man von ihm mehr sehen möchte. Bis in die
kleinste Nebenrolle ist „Kleine Wunder in Athen“ hervorragend besetzt; man beginnt
die sonderbaren Figuren schnell zu mögen und charakterlich zu erfassen.
Dazu kommen die sanft beobachtende, aber stets bei der Sache bleibende Kamera
und der gut geölte Schnitt, der für manche Situationskomik verantwortlich
ist. Ganz nebenbei verhandelt Tsitos noch messerscharf
die griechische Mentalität, die gegen Veränderungen resistent zu sein
scheint, das überkommene Männerbild, die Ursachen der Fremdenfeindlichkeit
und eine absurd disfunktionale Ökonomie. Die Krise ist hier Dauerzustand, selten
aber war sie so unterhaltsam.
Alexandra Wach
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film Dienst
Kleine Wunder in Athen
Griechenland / Deutschland 2009 - Originaltitel: Akadimia Platonos - Regie: Filippos Tsitos - Darsteller: Antonis
Kafetzopoulos, Anastas Kozdine, Titika Saringouli, Giorgos Souxes - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 107
min. - Start: 22.7.2010
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