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Zwischenzeit
ZWISCHENZEIT, der dritte Film
der Wendländischen Filmcooperative, ist eine Sensation. Die Musik ist von
den Einstürzenden Neubauten, und es werden auch sonst ein paar Sensorien
mehr angesprochen, als wir es vom klassischen Dokumentarfilm gewöhnt sind.
Gorleben und die Anti-AKW-Bewegung sind wie in den beiden ersten Filmen - DIE
HERREN MACHEN DAS SELBER, DASS IHNEN DER ARME MANN FEYNDT WIRD (1976-79) und
TRAUM VON EINER SACHE (1980/81) - Thema, jetzt aber entschieden
mittelbar. Direkt geht es um mehr als um die Sache: um die Menschen, die in
Gorleben 1981-1985 zueinanderfinden, aufeinanderstoßen und sich wieder
trennen. Vom Polizeisprecher, Oberwachmann und Standortrepräsentanten zum
Untergrundarbeiter, Freizeitdemonstranten und Waldbauern. Die Filmmacher zögern
nicht, jederzeit in das Geschehen einzugreifen und mit ästhetischen Mitteln
der Filmdramaturgie Wirklichkeit zu schaffen (oder doch mindestens punktuell
zu verändern). Die Strategie des Films ist gleichzeitig eine Strategie
des Widerstands (und nicht eine darüber). Und da der Film kreativ, fantasievoll,
provokativ und auf nicht recht zu fassende Art ironisch-subversiv ist, lädt
er zu entsprechendem, vor allem nicht recht zu fassendem Widerstand ein. Die
Einladung der ZWISCHENZEIT macht neuen Mut. Dies zunächst. ZWISCHENZEIT
ist selbst produziertes Ereignis. Und man sollte dieses sensationelle Ergebnis
in einer Filmbesprechung dadurch würdigen, daß man den Ereignis-Film
aus der Sparte des Dokumentarfilms herausnimmt, die heute überwiegend mit
den Negativerlebnissen Resignation, Frustration und Melancholie assoziiert wird.
ZWISCHENZEIT ist Film. Ein guter.
Der Polizist, der eine Wendland-Straße
sperrt, zieht plötzlich eine Pistole. Man spürt seinen Haß und
seine Aggression gegenüber den Demonstranten. Diese freuen sich sichtlich
über die gelungene Provokation. Über den kleinen Sieg. Polizistenkollegen
reden dem Pistolenträger gut zu. Es scheint, daß die Demonstranten
Herr dieser Lage sind. Doch freilich: die Atommülltransporte haben freie
Fahrt. Von der Polizei gut gesichert und von Blockadeaktionen ungehindert erreichen
sie ihr Ziel - vorbei am Akzeptanzforscher, der den ZWISCHENZEIT-Film hindurch
die Widerstandsaktionen begleitet. - Mit dieser - fiktiven - Gestalt greift
der Film in die Bewegung ein. Eine Erfindung, die -jetzt aber im Großen
- genausogut funktioniert, wie die reale Szene mit dem Pistole ziehenden Polizisten.
Der Akzeptanzforscher kommt vor Ort dem vorgeblichen Auftrag und der Aufgabe
nach, die sogenannte Bewegung zu analysieren und Befriedungsstrategien zu entwickeln.
Die Filmmacher lassen ihn zur handelnden Person in einer realen Anhörungsposse
werden, zum absurden Interviewpartner des Bewachungs- und Sicherungsunternehmens,
zu einer Art Empfangschef der Blockadeorganisation. Mit falscher Routine begrüßt
er Neuankömmlinge; mit falschem Verständnis läßt er vermummte
Terroristen Pläne entwickeln; mit falschem Händedruck gliedert er
sich in die Menschenkette ein. Der Film zeigt gesprengte Hochspannungsmasten
und die saubere Sprengung eines Fabrikschornsteins.
Das Forscher-Falsifikat operiert
in diesem Film mit schlauen, eleganten Soziologentexten. Nicht weil der Text
falsch oder mindestens der realen Situation unangemessen ist (beides trifft
zu), sondern weil der Gebrauch des Textes und darüber hinaus der Gebrauch,
den der Film von der inszenierten Figur macht, eine überaus befreiende
(und sich im Gelächter ausdrückende) Erfahrung erlaubt. Mühelos
bewegt sich der Akzeptanzforscher, ob echt, ob falsch, ob real, ob fiktiv in
beiden Lagern: dem der Freunde, dem des Feindes. Die Grenzen spielen für
ihn keine Rolle, auch nicht die Widerstandsformen, ob Folklore, ob Gewaltakt.
Ihm stehen gleich dem Saboteur in einem Industriesystem alle Möglichkeiten
offen.
Die inszenatorische Erfindung
des Films entzieht sich der Theorieproduktion und der Handlungsanleitung. ZWISCHENZEIT
verwischt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, öffnet die Realität,
macht sie operabel und nimmt die Angst vor dem, zu dem der Fälscher, endlich,
freien Zugang hat. Der Film klopft das Vorgefundene auf die Eignung zum eigenen
Gebrauch auf. Seine ästhetische Strategie ist daher der Einsatz (vorgefundener)
Reportage-, Interview- und Statement-Technik und der Einsatz (vorgefundener)
Texte: vom Anarchisten und Revolutionär Alexander Herzen (Paris 1848) über
das Kauderwelsch der Zeitschrift für Semiotik (Tübingen 1983) bis
zu offiziellen Verlautbarungen der Bundesrepublik 1985. Seine politische Strategie
ist die der Nutzung (des vorhandenen Arsenals) zum eigenen Gebrauch. Was ist
die Jahre geschehen? Was macht man damit? Die „Zwischenzeit" entdeckt ihre
Geschichte. Die neue Wissenschaft ist fröhlich. Vorbei die dumpfe Erwartung
des Eintritts der nächsten Utopie.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text
ist zuerst erschienen in: epd Film 1/86
Zwischenzeit
Bundesrepublik Deutschland 1982-1985. R, B: Roswitha Ziegler und
Gerhard Ziegler, Niels Christian Bolbrinker, Jochen Fölster. Mitarbeit:
Uli Fels. Heinz Harmsdorf, Manfred Herold, Angelika Maiworm, Olaf Melzer, Irmhild
Schwarz. K: Niels Christian Bolbrinker M: Einstürzende Neubauten. P: Roswitha
und Gerhard Ziegler, Niels Chr. Bolbrinker, Jochen Fölster. V: Zentralfilm.
L: 125 Min., 16mm. DEA: 8.11.85, Duisburger Filmwoche. St: Januar 1986. D: Jochen
Fölster (Akzeptanzforscher).
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