Zwickel auf Bizyckel
Der Film mit dem merkwürdigen Titel erinnert an vergangene
revolutionäre Zeiten: Von dem Kollektiv "Epplwoi Motion Pictures",
einer Gruppe junger Frankfurter Filmhochschulabsolventen, wurde er 1969
gedreht, dann ging das Geld aus und erst jetzt kommt er fertig
geschnitten an die Öffentlichkeit. Deshalb kann er heute mit dem
dramatischen Slogan: "Nach 30 Jahren zum ersten mal im Kino!" beworben
werden.
"Zwickel auf Bizyckel" ist ein kleines ungeschliffenes Juwel,
vielleicht nicht gerade ein Diamant, eher irgendein Halbedelstein, aber
doch von großer rauher Schönheit, wie ich fand. Gedreht nur mit
Laienschauspieler und in Schwarzweiß verbindet er dokumentarische Kraft
und erzählerischen Irrwitz zu einer manchmal unbeholfenen, manchmal
ganz schön holprigen, manchmal absurden, manchmal rührenden, aber
irgendwie immer spannenden Mischung.
Erzählt werden zwei unverbundene Geschichten, zum einen von der
phlegmatischen Kindergärtnerin Doris, zum anderen vom schielenden
Maurer Robert. Schon der Anfang ist vielversprechend: Eine wackelige
Kamera zeigt eine Frau und ein Kind einen Gang auf irgendeinem großen
Schiff entlang gehen. In der nächsten Einstellung sehen wir die beiden
zusammen mit anderen Passagieren in der Sonne auf Deck, es ertönt ein
alter Schlager aus dem Off, das Kind tollt herum, alles ist gut.
Dann kommt folgender Zwischentitel: "Die Kindergärtnerin Doris hat den
Auftrag übernommen, ein kleines Mädchen zu ihren Eltern nach Afrika zu
bringen. Das Kind fällt ins Wasser. Doris bricht ihre Reise ab."
Zugegeben: Das kommt etwas plötzlich, gleich danach ist Doris nämlich
wieder zu hause bei der meckernden Mutter, aber ich fand doch sehr
charmant, wie der Text der Narration ganz unverhohlen unter die Arme
greift.
Überhaupt sind die Bilder in "Zwickel" mehr zum Zeigen da, als zum
Erzählen. So entsteht ein subproletarisches Sittengemälde der muffigen
End-60er, mit wundervollen zufälligen Momenten, z.B. wenn ein alter
Mann, potentieller Vermieter eines Zimmers, wahrscheinlich in echt und
nicht nur im Film, wenn der etwas mißtrauisch und doch voller Stolz mit
einem riesigen Modellschiff anschleppt, dabei immer wieder verstohlen
in die Kamera blickend. Das fügt der Story nichts hinzu, ist doch aber
sehr lustig. Oder wenn Doris in ihrem neuen Job gekündigt wird, weil
sie ihre tragische Vergangenheit verschwiegen hatte, wobei auf dem
Tisch des durchaus verständnisvollen Kindergartenleiters sein
Cocker-Spaniel liegt und das Mädchen voller Trauer und Mitgefühl
anschielt.
Während Doris' Geschichte im Grunde nur aus Job- und Wohnungssuche
besteht, passiert Robert dem Totalverlierer schon mehr: Er streitet
sich mit seiner lebenslustigen Frau bis zur Trennung, er läßt sein
schielendes Auge, unter dem er sehr leidet, operieren, nur um kurz
danach zu stürzen und eine tiefe Narbe im Gesicht davonzutragen, er
macht einen Ausflug mit seiner großbürgerlichen Cousine und als sie
seine Annäherungsversuche zurückweist, erwürgt er vor Wut ihren Hund.
Deshalb kommt er in den Knast und wird frischentlassen von einem
schwulen Wäschereibesitzer eingestellt. Von dessen hocherotischem Tanz
mit Schäferhund in Kneipe läßt Robert sich nicht verführen und endet
schließlich als Kellner in einer Bahnhofstrinkhalle.
All diese Episoden erzählt uns Robert selbst mit ungeübten Worten aus
dem Off, dazu sehen wir Schwarzband, erst wenn er fertig ist, werden
die Bilder nachgereicht. Dadurch bekommt der Film einen klaren
Rhythmus, wir werden geleitet ohne uns in den einzelnen
Handlungssträngen zu verheddern, und durch andere Offkommentare, z.B.
von Roberts Frau oder auch von einem objektiven Erzähler überlagern
sich verschiedene Perspektiven. Ein schöner Regieeinfall also, und eine
intelligente Möglichkeit die Grenzen von Fiktion und Dokumentation
zerfließen zu lassen.
Denn es ist diese Mischung aus absurden Geschichten und genauer
Alltagsbeobachtung jenseits jeder Sozialromantik, die "Zwickel"
sehenswert, unterhaltsam und glaubwürdig macht. Gewisse Längen sollte
man in Kauf nehmen, dafür haben wir es mit einem auch nach 30 Jahren
noch sehr modernen Film zu tun. Und wer "Lola rennt" für kühnes,
frisches, wagemutiges Kino hält, der sei von mir dazu verdonnert sich
im Vergleich "Zwickel auf Bizyckel" anzuschauen. Ohne Zweifel ist der
ältere Film der wesentlich originellere, formal durchdachter und die größere Herausforderung an die
Zuschauer, da er sie auffordert selber zu sehen.
Dagegen sitzt Herr Tykwer in der Technozeitgeistfalle: Der rauschhafte
Trip soll das Denken ersetzen, allerdings nicht ohne pseudoabgeklärtes
eitles Pathos à la "Das haben wir auch schon alles gedacht und
geglaubt…". Zudem erkennen Tykwer und seine enthusiastischen
Unterstützer nicht, daß mit dem Setzen auf effekthascherische
Beliebigkeit die einfachste und offensichtlichste Wahl getroffen wurde,
und zudem noch mindestens 3 Jahre zu spät.
Also: Klarer Sieg nach Punkten für "Zwickel auf Bizyckel" gegen "Lola
rennt" wegen größerer Bescheidenheit, größerer Eigenständigkeit und
größerem intellektuellen und filmischen Potential. Was ist dagegen
schon ein kleines bißchen Langeweile?
Björn Vosgerau
Diese Kritik ist zuerst erschienen in:
Zwickel auf Bizyckel
Reinhard Krahn, Michael Leiner, D 1969-70/1998