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Yol
– Der Weg
Ein
Werk von epischer Wucht
Die
türkische Filmindustrie begann ihr Schaffen eigentlich erst richtig in
den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts und produzierte vorrangig Komödien
oder einfache Melodramen. Kritische Auseinandersetzungen, ob nun mit Religionen
oder dem politischen System waren strikt untersagt und die Arbeitsbedingungen
für türkische und vor allem kurdische Regisseure waren strengen Restriktionen
unterstellt.
Yilmaz
Güney, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, entdeckte schon sehr
früh seine linke Gesinnung. Als Kind kurdischer Eltern hatte er es zusätzlich
schwer und mußte 1961 zum ersten Mal aufgrund kommunistischer Umtriebe
(Verteilung von Programmheften) für fast zwei Jahre ins Gefängnis.
1963 erlangte er überraschend Popularität als Schauspieler, was zum
Teil auch durch die neue politische Lage erklärt werden kann, da 1960 das
Menderes- Regime gestürzt wurde und sich das Klima im Verlauf der 60er
zunehmend entspannte. Im Zuge dessen wurde das türkische Kino sozialkritischer
und beschäftigte sich nicht mehr mit verkitscht- verklärenden Melodramen,
sondern der den Bürger umgebenden Realität. Güney führte
auf dem Höhepunkt seiner Schauspielkarriere zum ersten Mal Regie bei dem
Film AT AVRAT SILAH. Schon in seinem ersten Werk machte Güney deutlich,
daß bei ihm immer eine Geschichte hinter der Geschichte lag und er auf
teils eindeutiger, teils symbolischer Ebene den Zuschauer involvierte.
Anfang
der 70er verschärfte sich die politische Lage in der Türkei wieder
und das sozialkritische Kino wurde von Seiten der Regierung untersagt. Auch
Güney hatte darunter zu leiden und wurde schließlich 1972 erneut
festgenommen, da er Studenten, die von der neuen Regierung gesucht wurden (das
Militär stürzte Demirel 1971 und Bülent Ecevit wurde als neuer
Ministerpräsident eingesetzt) Unterschlupf gewährte.
1974
kam Güney wieder frei, drehte die Dramen DER FREUND und LEBENSANGST, um
kurz darauf wieder im Gefängnis zu landen. Er wurde der Mittäterschaft
an einem Mord bezichtigt, was von Beobachtern schon damals als klares Manöver
der Regierung gewertet wurde, diesen systemkritischen und -hinterfragenden Regisseur
endlich loszuwerden. Doch Yilmaz Güney ließ sich davon nicht einschüchtern
und drehte daraufhin seine nächsten drei Filme vom Gefängnis aus in
Zusammenarbeit mit Zeki Ötken. In den Jahren 1980 bis 1982 sollte er sich
daran machen, sein bekanntestes und in der Entstehungsart spektakulärstes
Werk fertigzustellen.
Die
Türkei befindet sich seit 1980 unter der Herrschaft des militärischen
Generalstabschefs Kenan Evren. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen,
Folterungen und Hinrichtungen. Die fünf Freunde Yusuf, Seyit, Mehmet, Ömer
und Meyiut befinden sich alle in einem Gefängnis und haben lebenslange
Haftstrafen abzubüßen. So sind sie äußerst erfreut, daß
sie zu den Wenigen gehören, denen eine Woche Hafturlaub zugebilligt wurde.
Alle fünf starten diese Reise aus unterschiedlichen Beweggründen:
Yusuf
(herrlich synchronisiert von Martin Semmelrogge) möchte nach langer Zeit
sein "Mädchen" wiedersehen, doch schon an der ersten Straßensperre
des Militärs müssen sämtliche Passagiere des Busses aussteigen
und da Yusuf seine Papiere nicht finden kann, muß er in Untersuchungshaft,
bis die Sache geklärt ist. Seine Reise ist damit bereits nach wenigen Stunden
beendet.
Seyit
freut sich auf seine Frau und seinen Sohn. Doch zu Hause angekommen erfährt
er von seiner im Sterben liegenden Mutter, daß seine Frau ihm untreu war
und sie daraufhin von der Familie verbannt wurde. Sie befindet sich seit mehreren
Monaten in einem Kerker eingeschlossen und die Tradition verlangt, daß
er sie tötet.
Mehmet
weiß, daß ihm die Blutrache droht, da durch sein Verschulden der
Bruder seiner Frau starb. Ihre Familie ist außer sich, daß er seine
Frau und seine Kinder mitnehmen möchte, um mit ihnen zu fliehen.
Ömer
trifft in seinem kurdischen Heimatdorf ein und muß feststellen, daß
das Militär eine gnadenlose Belagerungspolitik betreibt und jeden tötet,
der sich nicht freiwillig ergibt.
Meyiut
nimmt den Platz seines verstorbenen Bruders in dessen Familie ein, doch schnell
wird ihm klar, daß die vermeintliche Freiheit sich durch religiösen
und traditionsgebundenen Druck kaum von einem Gefängnis unterscheidet.
Alle
fünf sind mit bestimmten Hoffnungen und Träumen in ihre kurze "Freiheit"
hinausgetreten und für sie alle entwickelt sich ihr Urlaub zu einem tragischen
"Abenteuer".
Yilmaz
Güney gelingt es mit minimalem filmischen Aufwand ein komplexes Panoptikum
eines unter starren Normen und Konventionen und gleichzeitig staatlich-totalitären
Systems leidenden Landes zu entwerfen. In diesem befinden sich fünf Anti-Helden,
die auf eigene Art rebellieren und versuchen, dem engen Korsett der Umstände
zu entkommen.
Als
Seyit seine ihm untreue Frau in Ketten geschlagen vorfindet, in einem Dorf in
den Bergen, ist er nicht in der Lage sie zu töten. Daraufhin entscheidet
er sich, mit ihr einen langen Marsch zu machen, eine Reise durch eine Schneehölle,
deren Strapazen sie nicht überleben würde. Doch in der Stunde ihres
Todes erbarmt er sich ihrer, bricht die ihm abverlangte Tradition, versucht
sie zu retten und besiegelt damit ihrer beider Schicksal, da seine Kräfte
nicht ausreichen, sie den ganzen Weg zu tragen.
Mehmet
flüchtet mit seiner Frau und den Kindern, wohlwissend, daß seine
angeheiratete Familie ihn töten möchte. In einem Zug gehen Mehmet
und seine Frau gemeinsam auf die Toilette, da sie es vor Begierde nicht mehr
aushalten, doch sie wurden beobachtet und sofort wird Alarm geschlagen. Dem
johlenden Mob der Fahrgäste entgehen sie nur, weil der Schaffner sich gnädig
zeigt und sie in einem anderen Waggon unterbringt.
Ömer
entscheidet sich für sein Dorf und seine Familie und stellt sich gegen
das Militär, woraufhin er im Grunde schon sein Todesurteil unterzeichnet
hat.
Diese
genannten Aspekte sind exemplarisch genug, um das Eskapismusbedürfnis der
Protagonisten deutlich zu machen. Sie wollen nicht nur dem Gefängnis entfliehen,
sondern dem sozialen Gefüge. Trotz dieses klaren Statements ergeht Güney
sich aber nicht in einer vordergündigen Anklage gegen sein Land und dessen
Volk. Im Gegenteil. Von geradezu beispielhafter Neutralität stellt er die
"negativen" Aspekte seines Landes dar und bleibt dabei immer ein Teil
von ihm. Er verleugnet in keinem Falle seine Herrkunft.
Mit
scheinbar spielerischer Leichtigkeit vereint Güney sämtliche politischen,
religiösen und sozialen Aussagen und liefert einen Film von epischer und
epochaler Wucht ohne extreme Stilmittel, der trotz all seiner Symbolik, sowohl
auf der Ebene des filmisch und politisch Fachkundigen als auch auf der des "unbedarfteren"
Zuschauers funktioniert. Wenn Ömer von Freiheit träumt und sich mit
einem Pferd über die Steppe reiten sieht, dürfte klar sein, was gemeint
ist. Wenn er aber mit seiner Familie kurdisch spricht, ist dies wohl in seiner
Besonderheit nur für Zuschauer zu erkennen, die wissen, daß diese
Sprache in türkischen Filmen ein Tabu ist und zum ersten mal seit YOL -
DER WEG erst wieder in dem 1999 gedrehten türkischem Drama REISE IN DIE
SONNE gesprochen wurde. Yilmaz Güney sah das Verständnis seiner Filme
jedoch anders. Er glaubt, daß nur derjenige, der sich bedingungslos mit
seiner Lebensgeschichte auseinandersetzen würde, die Bedeutung all seiner
Symbole wirklich verstehen könne.
Güney
arbeitete immer nach sehr einfachen Drehbüchern, doch nach seiner Inhaftierung
mußte er die Anweisungen bis ins kleinste Detail genau ausarbeiten. YOL
- DER WEG wurde von seinem Regieassistenten Serif Gören heimlich in der
Türkei gedreht, bis Güney nach einer spekatkulären Flucht unter
Einsatz seines Lebens, das Negativ- Material seines Filmes in die Schweiz retten
konnte und dort den Film selbst fertigstellte. YOL - DER WEG wurde der bis dahin
größte kommerzielle wie künstlerische Erfolg der türkischen
Filmindustrie und wurde 1982 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Die Türkei forderte seine Auslieferung und als dies nicht geschah wurde
er ausgebürgert. Nur zwei Jahre später verstarb Yilmaz Güney
47-jährig an Magenkrebs in seiner Wahlheimat Paris.
Yilmaz
Güney ist einer der größten Filmemacher aller Zeiten, da er
das Kino nicht nur als Kunst- oder Handwerk verstand, sondern mit jedem Atemzug
Film in sich aufnahm, um seine tiefsten Emotionen dem Zuschauer zu präsentieren,
in der Hoffnung auf eine bessere Welt. Sein Kino hat auch außerhalb des
Saales Geschichte geschrieben.
Die
deutsche Fassung ist in einer Szene um wenige Sekunden entschärft worden.
Marcos
Ewert
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de
Yol
- Der Weg
YOL
Türkei
/ Schweiz / BR Deutschland / Frankreich - 1981/82 - 114 min. - Drama - FSK:
ab 12; feiertagsfrei - Prädikat: besonders wertvoll - Verleih: Concorde
(DF) - Pandora (OmU) (16 mm) - Erstaufführung: 3.12.1982 - Fd-Nummer: 23758
- Produktionsfirma: Güney/Cactus/Maran/SRG/Antenne 2
Regie:
Serif Gören
Buch:
Yilmaz Güney
Kamera:
Erdogan Engin
Musik:
Sebastian Argol, Kendal
Schnitt:
Yilmaz Güney, Elisabeth Waelchli
Darsteller:
Tarik
Akan (Seyit Ali)
Serif
Sezer (Ziné)
Halil
Ergün (Mehmet Salih)
Meral
Orhonsoy (Emine)
Necmettin
Cobanoglu (Ömer)
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