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Yi
Yi – A One and a Two
Ich
sehe was, was du nicht siehst
Familie
in Taiwan: Edward Yangs Film will das Leben von allen Seiten zeigen
Erwachsenenfragen
verzehren sich gerne im Verlust von Möglichkeiten. Teenagerfragen sind
voller Selbstungewissheit und Trotz. Kinderfragen sind uns die liebsten, denn
sie spiegeln uns Erwachsenen den verloren gegangenen freien Blick. "Ich
kann nicht sehen, was du siehst und du nicht, was ich sehe. Wie können
wir dann mehr als die Hälfte der Wahrheit verstehen?" lautet die Frage,
mit der der achtjährige Yang-Yang in diesem Film seinen Vater quält.
Und gleich fängt er an, die Sache mit seiner kleinen Fotokamera praktisch
auszuprobieren. Erst knipst er die Mücken im Hausflur, um ihre Existenz
zu beweisen. Dann die Menschen, ausschließlich von hinten. Denn das ist
die Seite, die wir selbst von uns nie sehen können. Ganz ungefährlich
sind solche Taten nicht. Yang-Yangs Lehrer jedenfalls, der die Mücken-Fotos
findet und beschlagnahmt, hat dafür schnell ein gehässiges Etikett:
Avantgardekunst.
Der
taiwanesische Regisseur Edward Yang ist kein avantgardistischer Filmemacher.
Trotzdem stellt er sich auf Yang-Yangs Seite, ja, der Junge ist wohl - der Name
deutet es an - sein filmisches Alter Ego. Auch Yang möchte uns die Welt
von allen Seiten zeigen. Die großen Dinge wie die missglückte Liebe
und den Tod, aber auch den Abwasch und den Müll. Familienleben und Arbeit.
Die Menschen und die Stadt. Und er will Fragen stellen: Kinderfragen, Teenagerfragen
und Erwachsenenfragen auch.
Mit
einer merkwürdig melancholischen Hochzeitsgesellschaft im Grünen beginnt
dieser Film und endet mit einem Begräbnis. Dazwischen liegen drei Stunden,
in denen sich alles ändert und doch fast nichts. Die Lians sind eine ziemlich
gewöhnliche taiwanesische Mittelstandsfamilie, die über einem Schnellstraßenknäuel
ein Hochhaus-Apartment bewohnt. Yang-Yangs große Schwester Ting-Ting ist
eine ein bisschen zu brave Oberschülerin. Vater NJ ein wichtiger Mann in
einer Software-Firma, die am Rande des Absturzes steht. Auch Ehefrau Min-Min
arbeitet im Büro. Und NJs Bruder A-Di lebt von Schulden und hat seinen
Hochzeitstermin aus astrologischer Perfektionssucht so oft verschoben, dass
die Braut jetzt hochschwanger ist.
Es
soll ein ganz großer Tag werden, doch dann geht alles daneben. Erst sorgt
das plötzliche Auftauchen von A-Dis Ex-Freundin für nervöse Unruhe.
Dann trifft NJ durch Zufall im Lift auf eine Jugendliebe, die er vor 30 Jahren
sitzen gelassen hat. Und die Großmutter bekommt bei der ganzen Aufregung
einen Schlaganfall. Den Rest des Films liegt sie in ihrem Zimmerchen im Koma.
Sie
braucht regelmäßige Ansprache, hat der Arzt gesagt. So wird ihr Bett
zum Beichtstuhl, und die alte Frau zum passiven Zentrum des Films. Während
NJ die Selbstgespräche mit seiner Mutter zur spirituellen Ansprache nutzt,
verweigert sich der kleine Yang-Yang der kommunikativen Aufgabe ganz. Ting-Ting,
die sich mitschuldig an dem Unfall glaubt, verbringt schlaflose Nächte
an Großmutters Bett. Und Ehefrau Min-Min ist so entsetzt von der Leere,
die sie plötzlich in ihrem Inneren vorfindet, dass es nur einen Ausweg
gibt. Ab ins Kloster.
Bei
uns wäre es wohl eher der Psychiater. Doch bis auf solche Details ist dieses
Taipeh ein kaum exotischer Ort. Gelassen, manchmal ironisch und immer sehr warmherzig
wird hier vom Leben des Kleinbürgertums in den Metropolen berichtet. So
elegant und locker spiegelt Yang seine Erzählstränge ineinander, dass
einem erst nach und nach die raffinierte Komplexität dieser Konstruktionen
aufgeht. Spiegelungen auch auf visueller Ebene: Wie eine transparente Außenhaut
legen sich die Reflektionen der Stadtlandschaft über ihre Bewohner. Immer
wieder dringen auch mediale Abbilder in das Filmbild ein. Ultraschall, Überwachungskameras.
Einmal ist eine Einstellung lang der Reflex eines Pornofilms auf einem Bettgestell
zu sehen, erkennbar nur durch den Ton.
Es
sind bedrängte Menschen. Edward Yang gibt ihnen etwas Freiheit zurück,
in dem er darauf verzichtet, Antworten zu geben. Yang Weihans Kameraarbeit unterstützt
dies, indem sie ihre Objekte mit weiten Winkeln fast beiläufig und unbewegt
ins Visier nimmt. Bilder, die auch dem Zuschauerblick Freiheit geben. Es ist
wohl diese Freundlichkeit zu seinen Personen, die "Yi Yi" - trotz
ähnlicher Strukturen - von amerikanischen Filmen wie "Happiness"
oder "Magnolia"
unterscheidet. Auch der Blick auf das Familienleben ist erfreulich unaufgeregt,
was gut tut, weil der Blick dann freier anderswohin schweifen kann.
Die
rätselhafteste Figur in diesem Film ist ein Software-Guru, den NJ zu Geschäftsverhandlungen
in Tokio trifft. Mr. Ota, der aussieht wie ein japanischer Bill Gates, stellt
auch als Erwachsener noch Kinderfragen. Und er führt anschaulich vor, dass
es im Leben nicht auf Tricks ankommt, sondern auf Konzentration. "Yi Yi"
kann je nach Schreibweise "Eins neben Eins" = Individualität
oder auch "Eins über Eins" = "Zwei" bedeuten. Kinderfrage:
Wie viele verschiedene Filme stecken in dieser Film?
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: Der Tagesspiegel
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der
filmzentrale mehrere Kritiken
Yi
Yi - A one and a two
Wu
Nianzhen, Jonathan Chang
Taiwan/Japan
2000 - Regie: Edward Yang - Darsteller: Wu Nianzhen, Elaine Jin, Kelly Lee,
Jonathan Chang, Tang Ruyun, Chen Xisheng, Ke Suyun, Zeng Xinyi, Xiao Shushen,
Issey Ogata, Michael Tao, Adrian Lin, Xu Shuyuan, Yupang Chang - Länge:
173 min. - Start: 14.6.2001
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