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XXY
Schreckliche
Freiheit
Alex (Ines Efron) ist fünfzehn und
sie ist ein Hermaphrodit, ein Mädchen mit Brüsten und einem Penis.
Man hat sie nicht, wie es in solchen Fällen lange Zeit üblich war
und oft schlimme Folgen zeitigte, nach der Geburt operiert. Ihre Eltern haben
ihr die schreckliche Freiheit gelassen, anders zu sein als die anderen, und
"XXY", das Debüt der Regisseurin Lucia Puenzo, erzählt von
beidem: der Freiheit und dem Schrecken. Es geht Puenzo dabei nicht - wie etwa
Jeffrey Eugenides' Erfolgsroman "Middlesex" - um Gender-Diskurse,
nicht um Thesen zum Umgang mit Intersexuellen. Und nur im besten Sinne ist "XXY"
ein Problemfilm, weil es ihm nämlich gelingt, das "Problem" so
zu indivualisieren, dass man sich mehr für das Individuum interessiert
und seine Art und Weise, das Problem zu konfrontieren.
Die Eltern sind damit so umgegangen, dass
sie einen Schutzraum geschaffen haben, am Rand der besiedelten Welt. Durch Umzug
nämlich von Argentinien in eine Küstenregion von Uruguay. Der Vater
ist Meeresbiologe, so lässt es sich beruflich begründen. "XXY"
zeigt den Punkt, an dem dieser Schutzraum Alex nicht länger schützen
kann, weil sie selbst herausfinden muss, wer sie ist. Eine befreundete Familie
kommt zu Besuch und Alex verguckt sich in Alvaro (Martin Piroyanski), den Sohn
in ungefähr ihrem Alter. Er verguckt sich auch und sieht sich beim Liebesspiel
mit den biologischen Tatsachen konfrontiert. Worauf er, nicht sofort, aber nach
und nach, anders reagiert, als man denken sollte.
Damit aber ist es Lucia Penzo, deren Drehbuch
nicht die stärkste Seite des Films ist, nicht genug. Sie hat, wie um für
Balance zu sorgen, eine Vergewaltigungsszene eingefügt und eine Konfronation
Alvaros mit seinem Vater, der ihn seiner "Unmännlichkeit" wegen
verachtet. Allzu symbolisch geht es mitunter zu, von intersexuellem Meeresgetier
und zerhobelten Karotten bis zum Familiennamen von Alex, der "Kraken"
lautet. Diese Symbolik wird durch zweierlei immer wieder vergessen gemacht:
die fiebrig-lebendige Kamera der (immer fantastischen) Natasha Braier, die den
Figuren nahe kommt und nahe bleibt, ohne aufdringlich zu sein und so überzeugend
daran arbeitet, dass sich nichts verfestigt, im Inneren von Alex und Alvaro
und im Äußeren der erst leise, dann heftiger erschütterten Leben
aller Beteiligten. Und vor allem Ines Efron, die Darstellerin von Alex, die
schon im kürzlich bei uns angelaufenen Film "Glue" zu sehen war (Kamera auch da: Natasha
Braier), und völlig überzeugend zwischen Furcht, Trotz, Verträumtheit
und abrupt aufbrechender Entschlossenheit weniger schwankt als in abrupten Schüben
gleitet.
"XXY", in Argentinien vielfach
ausgezeichnet, als bester Film für den Oscar und auch die spanischen Goyas
eingereicht, ist nicht rundum gelungen, aber er reißt mit als Werk dreier
atemberaubend talentierter Frauen: Natasha Braier, die schon nach ganz wenigen
Filmen (Jose Luis Guerins "En la ciudad de Sylvia" ist auch darunter)
in die erste Reihe der Bildgestalter gehört; Lucia Puenzo, die nach diesem
Debüt neben Lucrecia Martel wohl interessanteste junge argentinische Regisseurin;
und natürlich Ines Efron, von der die Welt, ist zu hoffen, noch sehr viel
zu sehen bekommen wird.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
am 25.06.2008 im www.perlentaucher.de
XXY
Argentinien
/ Frankreich / Spanien 2007 - Regie: Lucia Puenzo - Darsteller: Ricardo Darin,
Ines Efron, Martin Piroyansky, German Palacios, Valeria Bertucelli, Carolina
Pelleritti, Guillermo Angelelli, Cesar Troncoso - Länge: 91 min. – Dt.
Start: 26.06.2008
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