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Vogelfrei
Mona
ist die totale Aussteigerin. Entgegen allen filmischen Gepflogenheiten marschiert
sie konsequent von rechts nach links.
Ein
Mädchen wird verdreckt und steif in einem Graben gefunden. Es ist tot.
Erfroren. »NATÜRLICHER TOD«, stellt die Polizei lapidar fest,
und ein Bauer vermutet, sie sei eine Streunerin gewesen. Im Off-Ton die Stimme
der Regisseurin, die die letzten Wochen der Toten rekonstruieren will, mit Leuten
sprechen möchte, die Mona begegnet waren, wobei sie gleich sagt, daß
sie selbst nicht viel von ihr wisse und viel auch nicht verstehen würde.
Nach
neun Jahren Kurz- und Dokumentarfilmarbeit hat Agnes Varda jetzt wieder einen
Spielfilm realisiert: VOGELFREI - der in Venedig 1985 den »Goldenen Löwen«
als bester Film erhielt. Agnes Vardas letzter Spielfilm DIE EINE SINGT, DIE
ANDERE NICHT kam 1976 in die Kinos, jedoch verbindet man mit der französischen
Regisseurin, die seit 30 Jahren Filme dreht, vor allem DAS GLÜCK, der 1965
heftige Diskussionen ausgelöst hatte. VOGELFREI ist ein Film über
Mona, eine junge Vagabundin, die ziellos über die winterlichen Straßen
Südfrankreichs zieht.
Ihr
begegnen unterwegs Menschen - manchmal Randfiguren der Gesellschaft wie sie
- aber auch Arbeiter, Bauern, Menschen, die ihr helfen, ihr Arbeit geben und
sie eine Zeitlang bei sich aufnehmen. Die Menschen, denen sie begegnet war,
erinnern sich an sie, sagen ihre Meinung über Mona frontal in die Kamera.
Die Statements sagen mehr über die Menschen als über Mona aus.
Mona
löst Emotionen aus: Bewunderung, Ekel, Neugierde, Unverständnis, Hilfsbereitschaft
und schlechtes Gewissen, »sie stört und verwirrt, weil sie alles
zurückweist, auch die geringste soziale Anbiederung, jegliche Perspektive.
Sie stört auch, weil sie nie Opfer ist, nie bedauernswert«. (Agnes
Varda.)
Im
Gegensatz zu dem pathetischen deutschen Verleihtitel VOGELFREI entspricht der
französische Originaltitel SANS TOI NI LOI - OHNE DACH UND GESETZ sehr
viel eher dem Tenor des Films. Vogelfrei wird man erklärt, ein Vogelfreier
ist zum »Abschuß« freigegeben, jeder kann sich ungestraft
an einem Vogelfreien vergehen.
Ohne
Dach und Gesetz zu leben, ist Monas freier Entschluß, sie hat ihrer gesicherten
Existenz den Rücken zugekehrt; sie hat die Straße gewählt und
die Freiheit. Aber absolute Freiheit bedeutet auch absolute Einsamkeit. Sylvain,
ein Ziegenhirte mit Philologiestudium, dem Mona unterwegs begegnet, meint zu
ihrer Suche nach Freiheit: »... es kommt ein Moment, wo man sich zerstört,
wenn man weitermacht. Alle Freunde, die unterwegs waren und nicht aufhören
konnten, sind tot oder inzwischen Wracks, Alkoholiker, Drogensüchtige.
Weil die Einsamkeit sie völlig zermürbt und aufgefressen hat, im wahrsten
Sinne ... « Durch einen Brand verliert Mona Rucksack, Zelt, Schlafsack
und stolpert, zum erstenmal wirklich schutzlos, in den Tod.
Sandrine
Bonnaire ist Mona. Nach A NOS AMOURS von Maurice Pialat hat sie für die
Rolle der Mona ihren zweiten CESAR verliehen bekommen. Sandrine Bonnaire spielt
Mona schroff und spröde, sie wirkt unnahbar und doch entwaffnend natürlich.
Mona ist das genaue Gegenteil von Suzanne, der Hauptfigur aus A NOS AMOURS.
Doch das war es, so Sandrine Bonnaire, das sie dazu bewegt hat, die Rolle zu
spielen, »es reizt mich sehr, jemanden darzustellen, der sehr verschieden
ist von mir.« (Presseheft)
Agnes
Varda vermeidet jegliche Rührung und jegliches Pathos. Der Zuschauer sitzt
im Parkett und darf nur Beobachter sein, Mona bleibt ihm fremd, er weiß
zu wenig von ihr, eine Identifikation fällt schwer. Sehr ernüchternd
ist auch die Tatsache, daß wir vom Tod der »Heldin« schon
von Anfang an wissen, wir also nicht dem - vielleicht- überraschenden Ende
entgegenfiebern können. Agnes Varda läßt damit dem Zuschauer
keine Chance, sich dem Film emotional hinzugeben, sie will, daß man sich
kühl und nüchtern mit ihm auseinandersetzt.
Im
Februar 1985 hat Agnes in Südfrankreich mit den Dreharbeiten begonnen.
Die Dialoge schrieb sie morgens auf der Motorhaube, es wurde viel improvisiert,
ein fertiges Drehbuch langweilt sie. Agnes Varda ist sehr präzise im Umgang
mit Technik, sie legt mehr Wert auf das Bild als auf den Dialog. So geht Mona
immer von rechts nach links - recht ungewöhnlich - da solche Gehbewegungen
in der Regel von links nach rechts gefilmt werden. Ausschließlich bei
diesen Travellings wird Mona von der Musik Joanna Brusdowicz begleitet, die
ähnlich spröde und abweisend wirkt, wie die Landschaft, die sie umgibt.
VOGELFREI
ist ein Film, der einen so schnell nicht losläßt, Mona beschäftigt
einen weiter, sie ist radikal, ist nie Opfer, nie bedauernswert, doch ihr Tod
hinterläßt ein schlechtes Gewissen. »Ich wollte einen bewegenden
Film machen, der auch über einige Gedanken meditiert, wie den der Freiheit
(dieses strapazierte Wort!) und der ein gut ausgedachtes Puzzle ist; bei dem
aber einige Stücke fehlen.« (Agnes
Varda)
Sabine
Schröder
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Filmfaust (1986)
Vogelfrei
Sans
toi ni loi
REGIE
UND BUCH: Agnes Varda KAMERA: Patrick Blossier SCHNITT: Agnes Varda und Patricia
Mazuy MUSIK: JOANNA Bruzdowicz DARSTELLER: Sandrine Bonnaire (Mona), Macha Meril
(Madame Landier), Marthe Jarnias (Tante Lydie), Yolande Moreau (Yolande), Patrick
Lepczynski (David) PRODUKTION: Cine-Tamaris, Films A2, Frankreich 1985 LÄNGE:
107 min. FORMAT:
1:1,66 Farbe VERLEIH: Condorde Film
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