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Der
unsichtbare Dritte
Ich
muss gestehen: »North by Northwest« ist mein Lieblingsfilm von Hitchcock.
Mit diesem Streifen führt der Master of Suspense sein Publikum mehrfach
hinters Licht; der Film überzeugt durch eine Handlung, die voller Geheimnissen
ist, durch etliche Wendungen und unglaublich gedrehte Szenen immer wieder die
Spannung steigert, und mit dem Hitchcock bis ins letzte Detail beweist, warum
er der Meister des Suspense und in gewisser Weise auch der Absurdität war
und ist. Hitchcock selbst bezeichnete »North by Northwest« als Höhepunkt
seines in Amerika gedrehten Werks.
Roger
Thornhill (Cary Grant) ist Werbefachmann. Eines Tages wird er entführt
und seine Kidnapper wollen von ihm bestimmte Informationen, weil sie glauben,
er sei ein Spion namens George Kaplan. Der feindliche Agent Phillip Vandamm
(James Mason) und sein Helfershelfer Leonard (Martin Landau) bekommen aus Thornhill
jedoch nichts heraus, weil der überhaupt nicht weiß, um was es eigentlich
geht. Nachdem sie den vermeintlichen Kaplan betrunken gemacht haben, setzen
sie ihn in ein Auto, um ihn bei einem inszenierten Unfall zu töten. Doch
die Polizei kann Thornhill vor dem Tod bewahren. Nur seine Geschichte glaubt
ihm niemand, auch seine Mutter (Jessie Royce Landis) nicht. Es gibt keine Spuren,
nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine Falle, die jemand Thornhill stellen
wollte.
Vandamm
und seine Helfershelfer verfolgen ihn weiter. Als er im Gebäude der Vereinten
Nationen glaubt, über den Diplomaten Lester Townsend (Philip Ober) Licht
ins Dunkel bringen zu können, wird dieser vor seinen Augen ermordet. Jetzt
hat Townsend nicht nur Vandamm, sondern auch die Polizei im Nacken. Mit Mühe
kann er sich in einen Zug flüchten und trifft dort auf die schöne
Eve Kendall (Eva Marie Saint), die vorgibt, ihm uneigennützig helfen zu
wollen. Doch Eve führt offenbar anderes im Schilde: Unter dem Vorwand,
Thornhill mit dem wahren George Kaplan bekannt zu machen, versucht sie, ihn
Vandamm auszuliefern. Mit knapper Not kann er den Killern entkommen und wird
vom Chef der US-Spionageabwehr (Leo G. Carroll) über die Hintergründe
des Geschehenen und über Eve Kendall aufgeklärt ...
»North
by Northwest« sprudelt nur so vor überraschenden Wendungen, den Zuschauer
in die Irre führenden Szenen, und vor allem konzentriert Hitchcock die
schreckliche Unwissenheit über das, was passiert, in seinem Hauptdarsteller,
Cary Grant. Der ahnungslose Werbefachmann gerät in einen Strudel von (Lebens-)Gefahr
und weiß absolut nicht, was eigentlich mit ihm passiert. Er wird zum Rädchen
in einem Getriebe, das ihm lange verborgen bleibt. Grant selbst soll während
der Dreharbeiten geäußert haben: »Ich glaube, das ist ein ganz
fürchterliches Drehbuch. Wir haben jetzt schon ein Drittel des Films abgedreht,
es passiert alles mögliche, und ich weiß noch immer nicht, worum
es geht.« Damit bestätigte er, ohne es zu ahnen, die enorme Spannung,
die einen gute zwei Stunden lang in Atem hält.
Beispiele:
Auf
der Flucht vor seinen unbekannten Peinigern steht Thornhill an einer Straße
mitten in einer wüstenartigen Gegend – eine stumme Szene, ohne Dialoge.
Grant wartet. Das Publikum weiß, dass etwas passieren wird; es ist sonnenklar,
dass demnächst ein Anschlag auf Thornhill stattfinden wird. Aber Hitchcock
zieht diese Szene auf ganze sieben Minuten in die Länge, lotet die Umgebung
aus, eine Straße, ein bepflanztes Feld, ansonsten Wüste, bevor sich
dann – zunächst nur für den Zuschauer hörbar – ein Flugzeug nähert.
Eine völlig absurde, unwahrscheinliche Szene. Hitchcock gestaltet den Raum,
die Zeit spielt keine Rolle. Er bietet dem Zuschauer alle Fakten, um auszuloten:
Wo könnte sich Thornhill jetzt verstecken? Was könnte ihn vor dem
Tod retten? Dann nähert sich das Flugzeug. Ein Farmer, der gerade in einen
Bus einsteigen will, sagt zu Thornhill, der neben ihm steht, die Hände
in den Hosentaschen: »Dahinten kommt ein Insektenvernichtungsflugzeug,
dabei gibt es hier doch gar keine Insekten zu vernichten.« Nach diesen
langen, zu äußerster Spannung getriebenen sieben Minuten beginnt
die Flucht Thornhills vor dem tödlichen Flugzeug. Grant rennt, als wenn
er auf einer Sprintstrecke im Stadion den Weltrekord brechen wollte – bis zum
ersten, aber nicht letzten Showdown des Films.
Nichts
ist hier – wie eigentlich immer bei Hitchcock – dem Zufall überlassen.
Das Phantastische an der Szene besteht aber auch darin, dass sie nicht, wie
oft üblich bei Sequenzen, in denen ein (versuchter) Mord unmittelbar bevorsteht,
in einer dunklen Seitengasse mit einer mysteriösen Gestalt hinter einer
Häuserecke oder ähnlichem spielt, sondern im lichten Freien, in der
Sonne; es spielt keine Musik, ist fast absolut still. Die Gegend scheint harmlos
und friedlich, und doch weiß jeder Zuschauer, dass es nicht so ist. Grandios.
Ebenso
gekonnt umgesetzt ist die Szene, in der der Professor, der Chef der Spionageabwehr,
Thornhill über die Umstände des Falls aufklärt und ihm erklärt,
warum ihm die Polizei nicht helfen kann. Die Szene, dreißig Sekunden lang,
spielt auf dem Flugplatz. Der Zuschauer bekommt von diesem Gespräch nichts
mit; es wird von dem Maschinenlärm der Flugzeuge überdeckt, man sieht
nur die Gesichter des Professors und Thornhills, seine Reaktionen auf das, was
ihm berichtet wird. Hitchcock selbst wies auf die Bedeutung der Zeit in dieser
Szene hin. Eine solche Aufklärung über die Hintergründe hätte
als reales Geschehen wesentlich länger als dreißig Sekunden gedauert.
Doch dem Zuschauer fällt dies im Film gar nicht auf, zum Teil auch deswegen,
weil er schon mehr weiß als Thornhill selbst.
Auch
in weiteren Szenen, im nachgestellten UN-Gebäude und am Schluss des Films
am Mount Rushmore vor der steinernen Kulisse der amerikanischen Präsidenten,
beweist Hitchcock Einfallsreichtum und sein Gespür für Hochspannung.
Das UN-Gebäude durfte übrigens auf Anweisung des damaligen Generalsekretärs
Dag Hammarskjöld für Filmaufnahmen nicht betreten werden. Hitchcock
gelang es dennoch, mit versteckter Kamera die Szene zu drehen, in der Cary Grant
das Gebäude betritt. Zudem ließ er heimlich im Innern des Gebäudes
Fotos machen, um die Dekors rekonstruieren zu können.
S C
H A U S P I E L E R
So
wie Cary Grant 1938 in »Leoparden
küsst man nicht«
(»Bringing Up Baby«, Regie: Howard Hawks) in einer Komödie
den ahnungslosen Wissenschaftler spielte, den Katherine Hepburn voll im Griff
hatte, mimte er hier in einem Thriller den ahnungslosen Werbefachmann, der lange
Zeit ebenso hinters Licht geführt wird. So unterschiedlich die Genre, die
beiden Filme auch sein mögen: Grant meistert seine Rolle nicht nur gekonnt,
sondern in der ihm eigenen Art. Genau diese Rolle liegt ihm: Der intelligente
Unwissende, der aufs Kreuz gelegt wird, flüchtet, protestiert, sucht verzweifelt
(aber ohne aufzugeben) nach der Wahrheit, wird böse und setzt sich am Schluss
doch noch durch (oder wird dazu veranlasst, sich durchzusetzen, wie in der Komödie
von 1938 durch die Hepburn).
Eva
Maria Saint überzeugt in der Rolle einer geheimnisvollen, äußerst
attraktiven Frau, die ihre erotische Anziehungskraft und ihren situativen Einfallsreichtum
geschickt einzusetzen vermag.
James
Mason schien in der damaligen Zeit (zu Recht) abonniert auf den kühlen,
überlegten, hartgesottenen, intelligenten Bösewicht, der sich durch
fast nichts aus der Ruhe bringen lässt.
F
A Z I T
Wie
François Truffaut gegenüber Hitchcock richtig bemerkte: »
... man sollte ihren Filmen nie die Willkür zum Vorwurf machen, denn sie
glauben an die Religion der Willkür, Sie haben den Sinn für die Phantasie,
die auf dem Absurden basiert.« »Den Sinn für das Absurde praktiziere
ich wie eine Religion«, bestätigte der Meister. »North by Northwest
ist nicht nur dafür ein Musterbeispiel.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist auch erschienen in:
Alle
Zitate aus: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott):
Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe:
1983), S. 212 ff.
Der
unsichtbare Dritte
(North
by Northwest)
USA
1959, 136 Minuten
Regie:
Alfred Hitchcock
Drehbuch:
Ernest Lehman
Musik:
Bernard Herrmann
Kamera:
Robert Burks
Spezialeffekte:
Arnold Gillespie, Lee LeBlanc
Schnitt:
George Tomasini
Darsteller:
Cary Grant (Roger O. Thornhill), Eva Marie Saint (Eve Kendall), James Mason
(Phillip Vandamm), Jessie Royce Landis (Clara Thornhill), Leo G. Carroll (Der
Professor, Chef der Spionageabwehr), Josephine Hutchinson (Mrs. Townsend, Vandamms
Schwester), Philip Ober (Lester Townsend, Diplomat), Martin Landau (Leonard),
Adam Williams (Valerian), Edward Platt (Victor Larrabee, Thornhills Anwalt),
Robert Ellenstein (Licht), Philip Coolidge (Dr. Cross)
©
Ulrich Behrens 2002
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