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Under
The Skin
Von Ken Loachs working-class-Dramen über The Full Monty bis Girls' Night – mit dem Platz, den sich das britische Kino bei uns
in der Publikumsgunst erobert hat, haben sich auch entsprechende Erwartungsstandards
herausgebildet und weiterentwickelt: warmherzige loser-Geschichten, die gesellschaftliche
Beziehungen engagiert erzählen und kommentieren; hart am Milieu, doch nicht
zu hart; lieber und immer öfter ein wenig sentimental, doch immer gebändigt
durch erzählerische Zurückhaltung und bei aller Bitternis schmackhaft
gemacht durch eine Prise bewährten britischen Humors.
Under the Skin, der Debütfilm der jungen, in Rio de Janeiro geborenen
britischen Regisseurin Carine Adler, scheint da eine neue Generation im britischen
Kino anzukündigen. Diese Einschätzung macht sich weniger am jugendlichen
Alter der 18jährigen Heldin fest als an der ungewohnten Konzentration des
Films auf diese eine Person und ihr Seelenleben, eine Aufmerksamkeit, die sich
in einer ungewohnt expressiven, subjektiven Bildsprache äußert. Ein
bißchen wie die ganz junge Jean Seberg sieht diese Iris aus. Sehr blond,
sehr hübsch, sehr kurzgeschnitten, mit kecker Aufmüpfigkeit in Gestik
und Gesicht. Doch das Selbstbewußtsein, mit dem Iris ihrer Umgebung zu
trotzen scheint, wird angekratzt, bevor sie überhaupt auftritt: von ihr
selbst, durch die selbstreflektierenden ersten Sätze eines Off-Kommentars
aus ihrer Perspektive, mit dem Under the Skin beginnt. Der aufmüpfige Gang ist ihre Abwehrhaltung.
Dahinter ein verletztes, liebesuchendes, verunsichertes Mädchen. Nach dem
Tumortod der Mutter (Rita Tushingham) nimmt diese Orientierungslosigkeit manische
Züge an.
Iris reagiert auf den Schnitt, der sie so plötzlich
ins Erwachsensein stürzt, mit kindlicher Aggressivität. Die schwelende
Konkurrenz zu ihrer älteren Schwester Rose wird zum offenen Clinch, der
sich am Wettstreit um angemessene Trauerrituale und persönliche Hinterlassenschaften
festmacht. Ein anderer Teil der Angriffslust richtet sich, zum Eroberungszwang
gewendet, auf das andere Geschlecht: Mehr oder weniger wahllos wirft sich Iris
den Männern an den Hals, Abgebrühtheit vorgebend, doch auf Nähe
hoffend. Die Handkamera folgt ihr dabei nervös und dicht auf den Fersen.
Auch sonst ist die mit Zeitlupe- und Unschärfeeffekten angereicherte Bildsprache
in diesem Film um einiges stärker stilisiert als wir das gemeinhin vom
britischen Realismus gewohnt sind. Direkt. Unmittelbar. Polemisch. Einmal wird
zum Beispiel aus einer Sexszene mehrfach auf einen Sarg gegengeschnitten, der
in einem Krematorium in Flammen aufgeht. Eine krudes, überdeutliches Bild
zwischen platter Seelen-Illustration und billigem Kontrasteffekt. Aber auch
ein in seiner Schlichtheit überzeugender Gedankenüberschlag. Und vielleicht
ist eine gewisse Roheit der Mittel ja das nötige Gegengift, unseren im
Effekt-Kino müdegelaufenen Sinnen durch ein Stutzen wieder auf die Sprünge
zu helfen? Vom Kinosessel zum „wirklichen Leben"? Denn der Bezug zur Wirklichkeit
ist ganz offensichtlich das Ziel von Carine Adlers Kinobemühungen. Einen
komplexen, vielschichtigen Frauencharakter habe sie schaffen wollen, sagt die
Autorin/Regisseurin, eine Figur, die nicht in den immer noch üblichen Dichotomien
aufgeht. Statt good oder bad das angry young girl: auch das ist so ganz neu
nicht (siehe Michael Winterbottoms Butterfly Kiss). Carine Adler ist dies Programm allerdings nur ansatzweise
gelungen, denn bei aller Komplexität ihres Hauptcharakters fallen die psychologischen
Erklärungen, die in Under the Skin mitschwingen, so lehrbuchhaft aus, daß diese Iris
einfach nicht lebendig werden will.
Etwa wenn sie sich in einem Akt kindlicher Travestie
Perücke, Pelzmantel und Sonnenbrille aus dem Nachlaß der Mutter aneignet,
um dann in dem bei ihr nur noch nuttig ausehenden Luxus-Outfit auf Männerfang
zu gehen. Mimesis als Trauerarbeit. Der Versuch, das verlorene Objekt durch
radikale Profanisierung zu entweihen. Psychologisch plausible Erklärungsfiguren,
doch irgendwie zu konstruiert, um auch erzählerisch überzeugend zu
sein. Auch diese Geschichte um schwesterliche Konkurrenz und töchterliche
Trauerarbeit ist angesiedelt in den üblichen blümchentapezierten Reihenhäusern
und Sozialwohnungen, Discos und Straßenecken im Norden des Inselreichs.
Gedreht wurde in Liverpool, allerdings mit der Absicht, das Stadtbild möglichst
weitgehend zu anonymisieren und damit zu generalisieren. Neben diesen räumlichen
sind es auch personelle Kontinuitäten, die Under the Skin in die britische Kinotradition stellen: neben Rita Tushingham
auch die Schauspielerin Claire Rushbrook, die schon in Mike Leighs Secrets and Lies die große Schwester gab und Ken–Loach-Kameramann
Barry Ackroyd, der einmal zeigt, was er auch kann. Die junge Schauspielerin
Samantha Morton, die hier ihr Kinodebüt gibt, tanzt unerschrocken auf allen
Tonlagen von hilflos bis cool. Auch sonst ist dieser Film glänzend besetzt.
Silvia Hallensleben
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:
Under The Skin
under the skin
Großbritannien 1997. R und B: Carine Adler. P:
Kate Ogborn. K: Barry Ackroyd. Sch: Ewa Lind. M: Ilona Sekacz. T: Gary Desmond, Paul Hamblin. A: John-Paul Kelly, Niall
Mulroney. Ko: Frances Tempest. Pg: Strange Dog. V: Kairos. L: 81 Min. St: 10.12.1998.
D: Samantha Morton (Iris), Claire Rushbrook (Rose), Rita Tushingham (Mutter),
Mark Womack (Franck), Matthew Delamere (Gary), Christine Tremarco (Vron), Stuart
Townsend (Tom).
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