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To Die For
Am Anfang sucht eine enthusiastische Kamera (Eric Edwards) nächste
Nähe. Ein Kopf verschwindet, ein Auge, eine Pupille. Was bleibt, sind drei
Lichtreflexe. Wir sind mittendrin in Little Hope, genauer: im örtlichen
Fernsehen, genauer: in der täglichen Wettervorhersage, genauer: in der
meteorologischen Schau, genauer: in der Selbstdarstellung, die das Weather Girl zum Ereignis macht. Zum Schluß reicht eine Totale nicht aus,
um sich von Little Hope zu entfernen, dem Ort, an dem TV-Realität und Fiktion
ununterscheidbar geworden sind. Regisseur Gus Van Sant (MY OWN PRIVATE IDAHO,
EVEN COWGIRLS GET THE BLUES), in komischer Verzweiflung, verdoppelt das Schlußbild, er
vervierfacht, vervielfacht es, bis es sich so aufgelöst hat wie die Eingangsgroßaufnahme.
TO DIE FOR hat eine handfeste Handlung. Liebevoll gibt der italienische
Restaurantbesitzer (Matt Dillon) seiner schönen jungen Ehefrau Suzanne
(Nicole Kidman) einen Klaps auf den Hintern. Für Suzanne ist das indes
nicht wirklich Realität. In dem unsäglichen Provinznest ist das, was
wirklich geschieht, einzig und allein im Fernsehen zu sehen. Und es gelingt
ihr tatsächlich, im örtlichen Sender die Wettervorhersage zu ihrer
persönlichen Show zu machen. Immer um dieselbe Zeit schaltet der Gatte,
um den es freilich einsam geworden ist, das Gerät an und entbrennt in immer
neuer Liebe zur Ehefrau. Diese hat schnell gelernt wie man mit Hilfe der Videokamera
erfreuliche Fakten schafft; sie zieht sich knallenge Jeans an sowie ein Tiger-Top
und befaßt sich zwecks Produktion des Dokumentarfilms "Teens Speak
Out" mit einigen Teenagern, die bis dahin "Beavis & Butt-Head"
nacheifern oder auch nur mit dem Baseballschläger Autos zerdatschen. Unter
Suzannes TV-erprobter Leitung formieren sich die Kids Jimmy, Lydia und Russell
zur Gang, die auf ausgesprochen handfeste Weise dafür sorgt, daß
die örtliche Realität fernsehgerecht umgestaltet wird. Im Film geschieht
das so konkret, daß ich das an dieser Stelle nicht sagen möchte.
Eine schwarze Komödie, die auch unabhängig vom Wortwitz
funktioniert. Munter, witzig führt uns die Kamera vor, wie man mühelos
und geschickt die Realitätsebenen von Stadt und TV wechselt. Scheinbar
zoomt sie zurück, wenn die Heldin moderatorinnenhaft ins Objektiv spricht,
aber dann sehen wir Suzanne rückwärts auf der Rolltreppe nach oben
fahren, und filmmäßig dürfte sie überhaupt nicht direkt
ins Publikum gucken. - Ich liebe diese Bildersprache. Sie bringt den Film in
den gehörigen, nämlich themengerechten Schwebezustand. Auch die böseste
Szene wird dadurch erfreulich und der gewichtigste Dialog federleicht. Und wir
wissen ohne jede Dialoganweisung, woran wir uns zu halten haben - vorausgesetzt,
man verschließt nicht die Augen oder entzieht sich sonstwie der Attraktivität
des Bildes. Dann können wir unser Bild- und sonstiges Interesse verlagern
auf Teenie-Lydia (Alison Folland), die sich im Lauf des Filmes selbst treu bleibt.
Die Darstellerin, im wirklichen Leben College-Schülerin, hatte noch nie
vor der Kamera gestanden. In TO DIE FOR behauptet sie sich mit geradezu dokumentarischer
Kraft gegen die Star-Darstellerin der Suzanne (Nicole Kidman hatte bekanntlich
das erotische Interesse des Batman geweckt). Warum das so ist, ist in die-sem
Film weniger eine Frage der Darstellungskunst als des Kostüms. Denn gegenüber
dem gleichbleibenden Kid-Outfit wechselt die vorgebliche Gang-Leaderin Suzanne
gegen Schluß des Films bedenklich ins Trabihaft-Pastellöse sowie
ins zweiteilige Kostüm-mit-Perlenkette, wenn ich nicht irre. Jetzt noch
dazu "Season of the Witch" (Donovan) hören - ja muß dann
noch ein Wort gesagt werden? Gus Van Sant ist einer, der dann wirklich kein
Wort sagt, und deswegen sind seine Filme, die er seit MALANOCHE zusammen mit
seinem Jugend- und Studentenfreund Eric Edwards gemacht hat, keine synthetische
Arbeitsteilung, sondern ein fotografisches, malerisches, musikalisches Ereignis.
Beide zusammen haben das legendäre Musikvideo "Under the Bridge"
für die Red Hot Chili Peppers gemacht. Dem Spielfilm bekommt, wie man sieht,
die erweiterte Bildsprache des Musikers, Malers und Fotografen Van Sant („108
Porträts", Twelvetrees Press) gut: eine Erlösung, die Auflösung
der "Little Hope"-Realität“ mit eigenen Augen zu sehen.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
TO DIE FOR
USA 1995. R: Gus Van Sant. B: Buck Henry (nach dem Roman von Joyce
Maynard), P: Laura Ziskin, K: Eric Alan Edwards, Sch: Curtis Clayton, M: Danny
Elfman, A: Missy Stewart, Ko: Beatrix Aruna Pasztor, Pg: Columbia. V: Connexion /Impuls, L: 103 Min. St: 14.12.1995.
D: Nicole Kidman (Suzanne Stone). Matt Dillon (Larry Maretto), Joaquin Phoenix
(Jimmy), Casey Affleck (Russell), Illeana Douglas (Janice), Alison Folland (Lydia),
Dan Hedaya (Joe Maretto), Wayne Knight (Ed Grant), Maria Tucci (Angela Maretto),
Susan Traylor (Faye)
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