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The
Purple Rose of
Woody Allen untersucht, ähnlich wie Buster Keaton
in Sherlock
Junior, die durchlässige
Demarkationslinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das Doppelleben unserer
Phantasie zwischen der als realitätstüchtig gepriesenen Anpassung
an die normative Kraft des Faktischen und ihrer Neigung, den Normen in das Reich
der Wünsche zu entfliehen. Doch die von Keaton konstruierte Grundsituation
dreht Allen um hundertachtzig Grad - das heißt akkurat um jene Achse,
die dem Lichtstrahl des Projektors und der Blickschneise des Zuschauers im Kino
entspricht. Träumt sich Buster als Filmvorführer in die Filmhandlung
hinein, um alsbald von den Gesetzen der kinematographischen Fiktion überrumpelt
zu werden, so steigt hier eine gefilmte, also fiktive Gestalt aus der Schattenwelt
der Leinwand heraus und ins Leben hinein - um zu erkennen, daß in der
Realität alles anders funktioniert und Liebesszenen, zum Beispiel, keine
Abblende haben. Nicht alle Irrtümer sind heilbar. Kehrt Buster von seiner
Reise durch das Land der gefilmten Träume „geläutert“, gewissermaßen
realitätstüchtig zurück, so hinterläßt der Abstecher
Tom Baxters in die Wirklichkeit eine Verletzung, die in der Schlußphase
Woody Allens fünfzehnten Spielfilm in Trauer und Ausweglosigkeit versenkt.
In ihrer Traurigkeit alleingelassen sieht sich am
Ende die Hauptfigur: die von Mia Farrow gespielte junge Cecilia, die sich, in
den Krisenjahren um 1930, als Kellnerin in einem Lokal irgendwo in New Jersey
durchschlägt. Monk, ihr Mann (Danny Aiello), hat seinen Job verloren und
vergammelt seine Tage mit Suff und Glücksspiel - ein grober Klotz, der
seine Frau von Fall zu Fall verprügelt, wenngleich er, sobald er sich selbst
nicht mehr zu helfen weiß, nicht verheimlichen kann, daß er sie
liebt. Cecilia flüchtet in die Traumwelt, die ihr das Kino an der Ecke
erschließt, in die schwerelose Welt der Schönen und Reichen, wie
sie so blankpoliert nur in den perfekt ausgeleuchteten Hollywood-Filmen jener
Zeit existiert. Viermal schon hat sie den neuesten Kassenschlager, „The Purple
Rose of Cairo“, gesehen und den strahlenden Jung-Star Gil Shepherd (Jeff Daniels)
angehimmelt, in seiner Rolle als Tom Baxter, als herzensbrechender Ägyptologe
mit Tropenhelm, den die Filmhandlung für ein paar feuchtfröhliche
Tage von den Pyramiden nach Manhattan verpflanzt. Beim fünften Mal schließlich
geschieht das Unglaubliche: Tom Baxter erwidert, von der Leinwand herab, Cecilias
liebenden Blick und steigt aus dem Film heraus, um sich seiner Verehrerin im
Kinoraum zuzuwenden.
Bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit
Woody Allen, als Autor und Regisseur, dieses kleine Trickwunder, das eher ein
gedankliches ist, vollbringt: Nicht etwa der Star, sondern die von ihm gespielte
Rolle verläßt, zum nicht geringen Entsetzen der anderen Rollen, die
Filmhandlung, das heißt: sie entledigt sich ihrer selbst und sagt sich
vom geschlossenen Ablauf des Drehbuchs los, um es mit der offenen Lektüre
des „normalen Lebens“ aufzunehmen. Die Liebesgeschichte zwischen Cecilia und
Baxter ist, so gesehen, die Geschichte zweier nicht-kompatibler Textebenen,
die scheitern muß. Die beiden fliehen aus dem Kino in einen verlassenen
Vergnügungspark; das Gerippe eines schrottreifen Riesenrades bildet von
nun an den Hintergrund ihrer Rendezvous. Cecilia, die zunächst verständlicherweise
nicht weiß, wie ihr geschieht, läßt sich von Tom Baxters Liebesschwüren,
seinen Umarmungen und Küssen immerhin davon überzeugen, daß
ein Traum in ihr Leben getreten ist und, wie fragwürdig auch immer, leibhaftige
Gestalt angenommen hat. Daß sie in zwei verschiedenen Texten leben, hat
Vor- und Nachteile. Aus einem teuren Restaurant fliegen die beiden heraus, weil
Baxter mit dem in den Filmstudios üblichen Spielgeld zahlen will. Aber
als ihn Cecilias Ehemann Monk, der das Pärchen in einer Kirche aufspürt,
ausgerechnet unter dem Kruzifix fürchterlich verdrischt, steht er ohne
Schramme wieder auf: Filmrollen sind ja nur von unseren Wünschen umspielte
Schattengebilde, folglich unverletzbar.
Die wirklichen Probleme kommen von anderer Seite.
Es leuchtet ein, daß sich Hollywood einschalten muß - eben jene
Fabrik, die unsere Träume gewinnbringend verwaltet, indem sie (Film-)Texte
konfiguriert, die nur als Gegenentwürfe zum Realtext unseres Alltags ihren
semantischen Sinn erfüllen. Das zeigt sich sogleich im Kino, dem Ort des
wundersamen Geschehens. Auf der Leinwand, die Tom Baxter verlassen hat, ist
eine unhaltbare Situation eingetreten: die anderen Rollen, plötzlich sich
selbst überlassen, sind außer sich, geraten miteinander in Streit,
überbieten einander in grotesker Rollen-Eitelkeit. Das Kinopublikum verfolgt
das Debakel teils amüsiert, teils hell empört; die Leute verlangen
ihr Geld zurück, beschimpfen die im buchstäblichen Sinn aus der Rolle
gefallenen Leinwandfiguren und bedrohen den Kinobesitzer. Der Projektor läuft
einfach weiter, ebenso der redundante Disput zwischen den beschäftigungslosen
Filmgestalten; schnell spricht sich das ungewöhnliche Ereignis in der Stadt
herum.
In Hollywood fürchtet Raoul Hirsch (Alexander
H. Cohen), der Produzent des Films, nicht nur ein geschäftliches Desaster,
sondern eine Entwicklung, die der Kontrolle entgleiten könnte - schließlich
ist bei mehreren hundert Kopien in den Kinos des ganzen Landes nicht auszuschließen,
daß Tom Baxter in hundertfacher Gestalt in den Städten herumläuft,
sich an zartbesaitete Frauen heranmacht oder gar Schlimmeres anstellt. Mit Gil
Shepherd, dem Darsteller Tom Baxters (natürlich: Jeff Daniels), reist der
Produzent nach New Jersey, um die Sache in Ordnung und Baxter zurück in
den Film zu bringen. Cecilia meets Shepherd - mit dem Ergebnis, daß sie
nicht mehr weiß, in wen sie wirklich verliebt ist: in den Darsteller -
oder in den nur Dargestellten, der ihr wenn nicht liebenswürdiger, so doch
unkomplizierter und irgendwie „perfekter“ (kein Wunder: hollywood-made) erscheint.
Die unvereinbaren Textebenen überkreuzen sich plötzlich: der leibhaftige
Star ist die Schnittstelle, in der das wirkliche Leben und die unbändigen
Sehnsüchte zusammenfallen und unsere Ideale verkörpert scheinen.
Dieser Star freilich verfällt auf einen miesen
Trick: er heuchelt der jungen Frau Liebe vor und verspricht ihr, sie nach Hollywood
mitzunehmen. Im Kino kommt es zu einer melodramatischen Aussprache: Cecilia
- in der Hoffnung, die Realität gewonnen zu haben - nimmt Abschied von
ihrer Phantasmagorie. Tom Baxter kehrt fassungslos auf die Leinwand zurück,
nicht ohne seinem Darsteller und der Frau seines nicht verwirklichten Lebens
einen langen, sehnsuchtsvollen Blick nachzusenden. Doch wie sollte es anders
kommen, auch Cecilia sitzt am Ende wieder allein im Kino und hat beides verloren:
ihren Traum und die Hoffnung, daß er sich jemals erfüllen könnte.
Eine Komödie, die so aussieht, als hätte
Siegfried Kracauer mit seinem Essay „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins
Kino“ von 1928 die Ideenskizze geliefert. Entsprechend genau hat Allen seinen
Film (der erstmals nach Interiors, 1978, wieder ohne ihn selbst als Darsteller auskommt)
konstruiert - vielleicht ist dies der Grund, warum ihn Kritiker wie Damian Cannon
vom Internet-Dienst „Movie Reviews UK“ heute „a touch too manipulative“ finden.
Ein Film über die Krisenzeit von 1930 - und ein Film darüber, daß
es fast immer Krisen sind, die die Menschen ins Kino treiben. Die Krisen sind
unterschiedlicher Herkunft, aber die meisten haben etwas damit zu tun, daß
die Leute, wie die arme Cecilia, gemeinhin weder reich noch besonders schön
und erst recht nicht glücklich, zudem häufig an den falschen Lebenspartner
gekettet sind. Fallen die persönlichen Krisen mit denen der Weltwirtschaft
zusammen, haben die Glitzer-Movies Hochkonjunktur - jene Filme, die uns das
Laissez-faire einer imaginären Upper class präsentieren, eine transparente,
gewichtlose Welt, in der es nur schöne Frauen und elegante Männer,
charmant betriebenen Müßiggang und weiße Telefone gibt.
Woody Allens Meisterschaft beweist sich nicht zuletzt
darin, wie gut er die Geschichte Hollywoods kennt und wie perfekt er sie in
seinem schwarzweißen Film im Film nachzustellen weiß. In Zelig
(1983) hatte er erfolgreich ausprobiert, wie sich eine Spielfilmfigur „nahtlos“
in authentisches Wochenschaumaterial integrieren läßt. Hier nun rekonstruiert
er inszenatorisch den Universal- und MGM-Stil von 1930, mit glänzenden
Darstellern wie Edward Herrmann und Zoe Caldwell, die - als agierten sie in
einem Lehrstück von Brecht - demonstrieren, daß auch die Größen
der Branche, wenn sie plötzlich aus ihren Rollen kippen, nichts anderes
als ich-süchtige, zänkische und ziemlich hilflose Wesen sind.
An diesen Bruchlinien schließt The Purple Rose of Cairo,
neben seiner soziologisch-sentimentalischen Botschaft, ein Geheimfach für
Intellektuelle und grüblerische Cinéasten auf: Sechs in der Filmhandlung
zurückgebliebene „Personen“ suchen die verschwundene siebte - eine Situation
aus dem Geist Pirandellos, in der in nuce ein schier endloser Diskurs über
Kunst und Leben, über Kino und Wirklichkeit, über die ebenso suggestive
wie brüchige Virtualität der Spiele aus Licht und Schatten versteckt
ist. Ohne „Handlung“ ist ein Schauspieler nichts, allenfalls das Material für
eine „Person“. Wenn die Handlung zusammenbricht und ihr simples Material zutage
liegt, ist auch „das Leben“ nicht mehr viel wert: „I want what happened last
week to happen again. Otherwise, what’s life about, anyway?“ fragt eine aufgebrachte
Zuschauerin den ratlosen Kinobesitzer. Leben ist, was wir auf der Kinoleinwand
- oder auf dem Fernsehbildschirm - wiederfinden, Woche für Woche und möglichst
Tag für Tag.
Gegen dieses Gesetz einer genormten, dem Universum
der Bilder ausgelieferten Kultur begehrt Tom Baxter auf: eine Fiktion probt
den Aufstand gegen ihre eigene virtuelle Existenz und klagt „Unmittelbarkeit“
ein, fordert die ganze Fülle des nichtgelebten Lebens, den Reichtum der
von den Medienklischees gefilterten und verfälschten „Realität“. Zwangsläufig
gerät die virtuelle Figur „Baxter“ mit ihrem Darsteller in Konflikt - eine
Auseinandersetzung, die nur vordergründig so aussieht wie ein Duell zwischen
zwei Rivalen um eine geliebte Frau. Shepherd täuscht seine Liebe ja nur
vor: ein Manöver, das ihm dazu dient, seine bedrohte Karriere zu retten.
Mit anderen Worten: der Schauspieler, als leibhaftiger Mensch, mag „das Leben“
gepachtet haben, doch dieses Leben ist nur Teil einer Maschinerie und insofern
Lüge. Die „Wahrheit“, wenn es sie gäbe, wäre allein in den Ideen
zu finden, die der Schauspieler in seinen „idealen“ Rollen verkörpert.
Im Zentrum seines Films erzählt Woody Allen also eine Geschichte, die von
der Revolte der Idee gegen ihre Einkerkerung handelt, vom Aufstand der Sehnsucht
nach Unmittelbarkeit gegen die Domestizierungen durch das Klischee. Baxter versus
Shepherd: das ist, filmtechnisch, ein guter special
effect; dramaturgisch ein Eifersuchtsdrama
zwischen dem Körper und seinem Schatten - philosophisch aber: ein aussichtsloses,
weil längst entschiedenes Gefecht.
Cecilia, das wirkliche Opfer auf diesem Schlachtfeld,
sitzt am Ende wieder im Kino; auf der Leinwand tanzen Fred Astaire und Ginger
Rogers, und die Musik erzählt von unsterblicher Liebe, von niemals endendem
Glück. Die Kamera zeigt groß Cecilias Gesicht: am Anfang noch den
Tränen nah, wie gezeichnet von einem namenlosen, rätselhaften Leid.
Doch ihr Gesicht hellt sich auf, ihre Augen saugen sich fest am Spiel des Lichts
und der Schatten - und alles, was in ihr lebt, verströmt sich in eine Welt,
die es nicht gibt.
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmgenres – Komödie; Herausgeber: Heinz-B. Heller, Matthias Steinle; im Reclam-Verlag, Stuttgart 2005
The
Purple Rose of
THE
PURPLE ROSE OF
USA
- 1984 - 82 min. - teils schwarzweiß – Erstaufführung: 3.10.1985/6.3.1987
Kino DDR/9.12.1987 ARD - Produktionsfirma: Rollins-Joffe/Orion - Produktion:
Robert Greenhut
Regie:
Woody Allen
Buch:
Woody Allen
Kamera:
Gordon Willis
Musik:
Dick Hyman
Schnitt:
Susan E. Morse
Darsteller:
Mia
Farrow (Cecilia)
Jeff
Daniels (Tom Baxter/Gil Shepherd)
Danny
Aiello (Monk)
Dianne
Wiest (Emma)
Van
Johnson (Larry)
Deborah
Rush (Rita)
John
Wood (Jason)
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