Ten Minutes Older - The Trumpet
0,0001% Lebenszeit heißt eine Erzählung von Alexander Kluge, nur einige
Zeilen kurz ist sie und erzählt von einem Mann, der aus einem Fenster
heraus zwei Hunde betrachtet. Die Erzählung endet mit der Feststellung,
der Mann habe soeben 0,0001% seiner Lebenszeit mit seiner Beobachtung
verwendet. Genauso groß ist wohl der Anteil an Zeit, den auch das Lesen
von Kluges Geschichte kostet, und den Leser diesen Rückschluss ziehen zu
lassen, ist das eigentlich Besondere an Kluges Zeilen.
Ten Minutes Older - The Trumpet nimmt sich eine ähnliche Idee zum
Ausgangspunkt: Genau zehn Minuten lang sind die Filme der verschiedenen
Regisseure. Sich mit dem Thema Zeit auseinander zu setzen, war die
einzige Vorgabe, die den Regisseuren gemacht wurde, die meisten zeigen
jeweils einen genau zehn Minuten langen Zeitraum aus dem Leben eines
Menschen. Lediglich Werner Herzog weicht in seinem Beitrag - nicht
zuletzt dadurch vielleicht der schwächste - ab. Die zehn Minuten werden
bei ihm zu einem Sprung von 10.000 Jahren. Herzog erzählt von
Eingeborenen, die bei ihrer ersten Konfrontation mit 'zivilisierten'
Menschen innerhalb von zehn Minuten aus der Steinzeit in die Gegenwart
katapultiert werden. Der größte Bruch in Herzogs Beitrag entsteht
dadurch, dass er heterogene Erzählstränge zusammenfügt, Archivmaterial
der Begegnung und neu gedrehte Bilder, die einige Jahrzehnte nach der
Entdeckung des Stammes entstanden. Dieser Bruch wird von den anderen
Regisseuren vermieden, die die zehn Minuten Filmzeit stärker in Bezug
setzen zu zehn Minuten Lebenszeit der Akteure ihrer Filme.
The Trumpet versammelt einige bemerkenswerte Beiträge, die in ihrem
Stilbewußtsein meist wie Visitenkarten des jeweiligen Regisseurs wirken.
Jim Jarmusch erzählt in seinem Film einfühlsam von den zehn Minuten
Drehpause einer Schauspielerin in ihrem Wohnwagen, von dem zum Scheitern
verurteilten Versuch, sich auch nur ein wenig Privatsphäre zu schaffen.
Jarmuschs Film besticht vor allem dadurch, dass er der einzige ist, der -
wie Kluges Geschichte - einen alltäglichen Vorgang beobachtet, zehn
Minuten, die willkürlich aus dem Leben einer Person gegriffen wirken und
dennoch einen Einblick zulassen in das Leben, den Charakter der
dargestellten Schauspielerin.
Die restlichen Filme nehmen sich weniger alltägliche Zeiträume zum
Anlass, Augenblicke, die besondere Bedeutung haben für die Personen, die
sie durchwandern: Nahtoderfahrungen, Neuanfänge, lebensverändernde
Entscheidungen. Kaurismäki beobachtet die Minuten, in denen ein
entlassener Häftling ein neues Leben beginnt, Erices vor allem ästhetisch
herausragender Beitrag zeichnet in extrem stilisierten schwarzweiß
Bildern die schicksalhaften Augenblicke, in denen auf dem Leintuch eines
Neugeborenen sich langsam ein immer größer werdender Blutfleck
ausbreitet, während die große Familie um ihn herum in träger
Siestastimmung versinkt, ohne die Gefahr zu bemerken.
The Trumpet gelingt es trotz der ästhetisch enorm unterschiedlichen
Werke durchaus, eine durchgängige Stimmung zu erzeugen, wenn auch einige
Momente den Zusammenhang empfindlich stören, Herzogs Beitrag etwa oder
auch eine unsägliche Computeranimation, die den ansonsten sehr
fantasievollen Beitrag Chen Kaiges geradezu zu zerreißen scheint.
Die Idee, von einem kleinen Zeitraum zu erzählen, ist angenehm
unspektakulär und schafft es offensichtlich dennoch, die teilnehmenden
Regisseure genug zu inspirieren, zwar keine Meisterstücke abzuliefern,
aber dennoch kleine Filme zu drehen, die sich in ihrer Gesamtheit zu
einer facettenreichen Betrachtung eines Themas addieren.
Ten Minutes Older - The Trumpet ist der erste von zwei Filmen zum
Thema Zeit, in wenigen Monaten läuft Ten Minutes Older - The Cello an,
der Filme von weiteren acht Regisseuren sammelt: Bernardo Bertolucci,
Claire Denis, Mike Figgis, Jean-Luc Godard, Jirí Menzel, Michael Radford,
Volker Schlöndorff und István Szabó werden in The Cello ihre jeweiligen
Gedanken zum Thema ausformulieren.
Benjamin Happel
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Ten Minutes Older - The Trumpet
Kaige Chen (100 Flowers Hidden Deep)
Víctor Erice (Lifeline)
Werner Herzog (Ten Thousand Years Older)
Jim Jarmusch (Int. Trailer Night)
Aki Kaurismäki (Dogs Have No Hell)
Spike Lee (We Wuz Robbed)
Wim Wenders (Twelve Miles to Trona)
UK, 2002