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Die
Stimme des Mondes
Einmal mehr spricht Fellini in LA VOCE DELLA LUNA
von den Verrückten, von den Frauen, von den Kindern, einmal mehr beschreibt
er kreisende Bewegungen seiner Hauptfiguren durch verschiedene Räume des
„Öffentlichen" und des „Privaten", und einmal mehr behandelt
er, was Anna Maria Mori „unsere grundlegende Identität" nennt. Damit
meint sie in erster Linie die italienische Identität, aber gewiß
geht es um eine noch darunter liegende Suche nach Individuation. Fellini ist
zugleich das philosophierende Kind, das fragt: „Was ist der Mensch?", und
der alte Spötter, der sagt: „Na was schon!"
LA VOCE DELLA LUNA ist „frei" nach dem Roman
„Il poema dei lunatici" von Ermanno Cavazzoni entstanden; mit ihm und Tullio
Pinelli schrieb Fellini auch das Drehbuch. Doch es geht um mehr als um eine
„Übertragung" in die Welt der Fellini-Bilder: „Nur Fellini konnte
daran denken, aus einer Erzählung einen Film zu schöpfen, die mehr
aus Worten als aus Handlung besteht", sagt Cavazzoni, und Fellinis Film
verhält sich ein wenig zu den Bildern wie der Roman zu den Worten; sie
bilden keine Geschichte, auch keine episodische Geschichte, sondern eine Bewegung,
die mehr als in früheren Filmen Fellinis dem philosophischen Diskurs verwandt
ist. LA VOCE DELLA LUNA ist ein Essay über Stille und Lautstärke,
über das Verstehen und das Beobachten, über das Reden und das Sprechen,
über das Verschwinden der Provinz (in Italien und anderswo) und über
ihre Unsterblichkeit.
Die Struktur des Films ist schnell beschrieben. Zwei
Männer bewegen sich um bestimmte Drehpunkte: den Marktplatz einer kleinen
Stadt, vermutlich in der Emilia Romagna, auf dem ungeheure Geschäftigkeit
herrscht, arabisches Öl, japanische Touristen und die allgegenwärtigen
schwarzafrikanischen Straßenhändler bestimmen neben Autos, Bussen
und lärmigen Umbauarbeiten das Bild. Dann ist da ein ländlicher Bauernhof,
zu dem es des nachts die Männer zieht, weil eine der voluminösen Fellini-Frauen
dort einen Striptease zu zeigen pflegt, ein Brunnen als magischer Ort, eine
leere Wohnung, und schließlich eine mächtige, in einer Fabrikhalle
verborgene Diskothek, deren Lautsprecheranlagen an die Geschütztürme
eines Panzerkreuzers erinnern. Roberto Benigni, der mondsüchtige Italiener
schlechthin, spielt Salvini, dem im Verlauf seiner Reise beides obliegt, zu
retten und gerettet zu werden, und Paolo Villagio, der verfolgte Misanthrop,
spielt Gonella, dessen Symbol tatsächlich der Rock (=gonnella) scheint.
Dieser Ex-Präfekt, der sich vielleicht nicht einmal völlig zu Unrecht
von überall verfolgt wähnt (unter anderem von den greisen Wohnungsnachbarn)
ist einer Verschwörung auf der Spur, die angeblich in der Diskothek ihr
Zentrum hat. Der Verfolgungswahn ist bei ihm eine philosophische Methode: Alle
Menschen sind an einem Komplott gegen alle Menschen beteiligt. Nun heißt
es nur noch Motiv, Medium und Ziel dieser Verschwörung zu bestimmen. Folgerichtig
versucht Gonella am Ende etwas mit Gewalt zu erreichen. Alles, was sich in Menschengestalt
begegnen kann, Engel und Teufel, Kind und Greis, Philosoph und Politiker, Land
und Stadt, Utopie und Geschichte, begegnet sich in Salvini und Gonella. Und
natürlich begegnet Fellini Fellini.
Das Ziel der Bewegung, die Salvini in die typischen
„biographischen" Träume bringt, an die Feuerstelle und ins Bett bei
der Großmutter zum Beispiel, und die ihm einige merkwürdige Freunde
(und Feinde) beschert, ist - vielleicht - ein philosophisches Paradox, nämlich
der Umstand, daß man eine Stimme wie die des Mondes nur entweder hören
oder verstehen kann. So beschreibt auch der Kirchplatz mit seinem Auf- und Umbau
der unaufhaltsamen Modernisierungen für den Zuschauer ein ähnliches
Paradox von Sehen und Verstehen. Was an der Oberfläche wie eine etwas polemische
Attacke gegen den Lärm, die Verstädterung und die Modernisierung scheint,
wird zu einer endlosen Bewegung, in der immer wieder das Alte aus dem Neuen
spricht. Die Nebenfiguren haben nicht nur Salvini etwas zu sagen, sie leben
auch ihre eigenen Märchen, wie jener Mann, dessen Musikinstrument sich
von ihm unabhängig gemacht hat und der sich auf dem Friedhof eingerichtet
hat (wo es sich auch leben läßt - siehe Titelbild) oder wie jene
kleinwüchsige ältere „Rockerin", die sich so gern als pragmatische
Helferin zeigte (zum Beispiel, als Salvini unter der Bühne eingeschlossen
ist, während man oben die von ihm angebetete Frau zur Schönheitskönigin
kürt) und für die sich - vielleicht - eine Liebesgeschichte durch
die Verhinderung eines schändlichen Feuerattentats auf einen Mann ihrer
Größe öffnet.
Salvini, der Erkenntnisse und Erfahrungen, wie immer
man das nennen will, stets erst durch eine Rückkehr in seine eigene Geschichte
erlangt, Salvini, der stets zu strahlen scheint, wenn er ein Spiel als solches
erkannt hat, diesen Salvini bezeichnet Fellini als „Pinocchio", während
Gonella, der kranke Realist, natürlich einem dummen August entspricht.
Ein Traum, der ein Mensch werden will (und dann doch, so entscheide ich für
mich, Traum bleibt), unter anderem, weil es für die Menschen die Liebe
gibt. Und ein Mensch, der die Wirklichkeit als Alptraum erlebt.
Jeder Künstler ist insofern ein „Reaktionär",
weil er etwas bewahren will, das von der Geschichte gefressen wird. Und jeder
Künstler ist auch ein Rebell, insofern er den Lauf der Dinge anzuhalten
versucht und der Welt das Abenteuer abverlangt. Mit der Modernisierung wird
dieses Abenteuer schwieriger, ist fast buchstäblich unterirdisch oder himmelwärts
zu suchen. Aber Fellini gehört nicht zu denen, die über den Verlust
lamentieren, seine Entdeckerreise geht weiter, und er verlangt von uns das genauere
Schauen. In LA VOCE DELLA LUNA gibt uns der Regisseur mehr Gelegenheit, das
ästhetische Material zu erobern; er entwickelt die Veränderungen langsamer
und unspektakulärer, wiederholt Motive, gibt ihnen Zeit, sich zu erklären.
Gerade in der Behandlung der Zeit zeigt sich Fellinis Meisterschaft; die Traumzeit,
die der Film schafft, vergeht auf eine ganz andere Weise als die Realzeit. Nicht
langsamer: erfüllter.
Seine Spaltung in Benigni und Villagio „rettet"
Fellini dabei noch einmal davor, sich zwischen Abenteuer und Abschied entscheiden
zu müssen. Und wie er seine beiden künstlerischen Haltungen aufeinander
treffen läßt, so läßt er auch die Methoden von etwa AMARCORD und PROVA D'ORCHESTRA aufeinanderstoßen, das
Märchen und die Fabel. Und auf diese Weise ist Fellini auch noch darum
herum gekommen, ein „Alterswerk" schaffen zu müssen. Die Kameraarbeit
scheint mir zwar in diesem Film „sanfter" als in den vorangegangenen; sicher
hängt das damit zusammen, daß Benigni und Villagio so stark sind,
selbst die Übergänge und Sprünge in den Bewegungen im Fellini-Kosmos
zu kreieren. LA VOCE DELLA LUNA ist dennoch ungemein vital und präzise,
kein Bild, das man so leicht vergessen wollte.
Während Europa wird, geht viel verloren an Natur
und Kultur, an Geschichte und Utopien. Aber es entstehen auch Filme wie LA VOCE
DELLA LUNA. Während er kleine Fußtritte an die Öl- und Medienkonzerne
verteilt, den Berlusconis dieser Welt eine lange Nase dreht, schafft Fellini
große Kunst: eine optimistische Komödie darüber, daß man
Poesie nicht kaufen kann. Man kann sie nicht einmal haben. Man kann sie nur
leben, oder wenigstens, zum Beispiel in Fellinis Film, sehen.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 5/90
Die
Stimme des Mondes
LA
VOCE DELLA LUNA
Italien 1990. R: Federico Fellini. B: Federico Fellini mit Tullio Pinelli,
Ermanno Cavazzoni. K: Tonino Delli
Colli. Sch: Nino Baragli. M: Nicola Piovani. A: Dante Ferretti. Ko: Maurizio
Millenotti. Pg: C.G.
Group Cinematografica/R.A.I. Gl: Bruno Altissimi, Claudio Saraceni. P: Mario und Vittorio Cecchi Gori. V: NEF 2. L: 120 Min. St: 31.5.1990. D:
Roberto Benigni (Salvini), Paolo Villagio (Präfekt Gonella), Nadia Ottaviani
(Aldina), Marisa Tomasi („Die Dampflok"), Sim (Der Oboist), Syusy Blady (Aldinas Schwester), Angelo Orlando (Nestore),
Dario Ghirardi (Journalist).
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