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Selbstmordversuch
»(Diese) Episode von Amore in Città hat ihre Geschichte. Ich habe
sie aus Freundschaft gedreht. Ich wurde von jemandem darum gebeten, dem ich
mich für eine Gefälligkeit erkenntlich zeigen mußte. Ich hatte
nicht einmal das Sujet, ich habe es mir telefonisch durchgeben lassen. >Selbstmorde<,
gab man mir auf, und ich habe die Selbstmorde gedreht. «
[M.A. in Chroniques de Cinema et de Television, Nr. 7, zitiert in Paul-Louis
Thirard, M. A., Premier Plan, Nr. 15, S.5]
»Es handelte sich um das
Projekt eines >gefilmten Magazins<. das von Cesare Zavattini, Riccardo
Thione und Marco Ferreri stammte. Die Nr. 1 - die einzige, die verwirklicht
wurde - behandelte >Die Liebe in der Stadt<. Zavattini, Fellini, Lizzani.
Maselli, Risi und Lattuada arbeiteten daran zusammen mit Antonioni; ein jeder
stellte auf seine Art einen Aspekt des Problems dar.« [Pierre Leprohon, 5.29]
Lizzani drehte Liebe, die man bezahlt, eine Episode über die Prostituierten
in Rom (wurde zuerst von der Zensur nicht für den Export freigegeben),
Risi Paradies
für vier Stunden, ein Musikfilm über Begegnungen in einem Vorstadttanzlokal.
Fellini beschrieb typische Szenen in einem Heiratsvermittlungsbüro, Lattuada
sammelte Impressionen in Die Männer drehen sich um und Zavattini und Maselli berichteten in Geschichte von Caterina vom Leben einer jungen Mutter in Rom.
TENTATO SUICIDO (SELBSTMORDVERSUCH)
ist eine Reportage über Fälle versuchter Selbstmorde in Rom. Im Kommentar
und den Fragen des unsichtbaren Interviewers Antonioni ist deutlich Skepsis
ausgesprochen, nicht gegenüber dem individuellen Recht auf Selbsttötung,
sondern gegenüber der Diskrepanz zwischen der filmischen Methode und ihren
Resultaten.
Man sieht die Zeitung mit dem
Aufruf, sich für die Dokumentation zur Verfügung zu stellen, dann
ein Bild, das die authentischen Personen wieder in den Zusammenhang filmisches
Fiktion rückt. Antonioni zeigt eine Gruppe von Männern und Frauen
in Straßenkleidung, die in großem Abstand voneinander in ein leeres
Filmstudio eintreten und sich vor der weißen, weitgespannten Stoffbahn
eines Cycloramas aufstellen, dann bei einer langsamen Kamerafahrt direkt in
die Kamera sehen. Dieses Bild, tastender als der bloß flüchtige Eindruck
eines Passanten und oberflächlicher als die Fixierung von Untersuchungsobjekten,
wird am Ende wiederholt. Ausgewählt hat Antonioni vier Fälle. Die
Situation von vier Frauen wird kurz umrissen, bevor sie die unmittelbaren Umstände
ihrer Tat erzählen, andeutungsweise den Ablauf nachspielen und kurz und vage Auskunft
geben zu ihrer Befindlichkeit seither. Ihre Geschichten sind Skizzen von Alltagskatastrophen,
nicht mehr, d.h. man findet einige überzeitlich wirksame Grundmuster von
Frauenschicksalen bestätigt und nicht tiefreichende Untersuchungen konkreter
Einzelerlebnisse. Ein Mädchen ist vom Verlobten verlassen worden, weil
es ein Kind erwartet und läuft vor ein Auto. Nach der Tat trennte sie sich
von ihm, weil er ein Egoist war, hätte ihn aber geheiratet, weil »die
größte Mühe den größten Lohn bringt«. Eine
ehemalige Tänzerin trifft als Barfrau auf den Ex-Gatten und eine andere
Frau und nimmt darauf Schlaftabletten; sie würde einen zweiten Selbstmordversuch
unternehmen, weil sie allein mit zwei Kleinkindern allmählich den Kopf
verliert. Ein junges Mädchen geht in den Tiber, weil sie von ihrem Geliebten
verlassen wurde und die Kamera zeichnet ihre Wahrnehmungen kurz vor der Bewußtlosigkeit
nach. Ein junges Mädchen aus dem Existentialistenviertel, »typische
Vertreterin der entwurzelten Generation« beginnt ein Verhältnis mit
einem älteren Mann aus »Unschuld, Naivität und der für
diese Jugendlichen typischen Grausamkeit« und wird darauf von ihrem Verlobten
verlassen. Man sieht sie zu amerikanischer Musik in einem Lokal tanzen, traurig
aus einem Fenster schauen und kamerabewußt demonstrieren, wie sie sich
die Pulsadern aufschnitt. Sie hat sich das Sterben leichter vorgestellt.
Diese Szene ist ein wirkungsvoller
Schlußpunkt, weil das Mädchen auf Antonionis Frage nach den Gründen
ihrer Selbstdarstellung offen ihre Ambitionen verrät und seine zuvor geäußerten
Bedenken bestätigt; der wahre Grund ihrer Depression sei, daß es
mit ihren neunzehn Jahren zu spät für sie sei, ein Studium als Schauspielerin
zu beginnen, wo sie sich nichts so sehr wünsche als Schauspielerin zu werden.
»Kaum hatte ich den verworrenen
Exhibitionismus dieser Selbstmördertypen erkannt, rührten sie mich
nicht mehr. Die meisten waren glücklich, daß sie versucht hatten,
sich zu töten, und nun hier vor einer Kamera davon sprechen konnten; sie
freuten sich, so leicht Geld zu verdienen. Sie flirteten sogar miteinander.
Es lag ihnen daran, mich zu überzeugen, daß sie damals sterben wollten,
daß sie ihren Versuch mehrmals wiederholt hatten; es sei eigentlich ein
Pech, daß es ihnen nicht gelungen sei; besser noch: wenn sie sich morgen
in der gleichen Situation befänden, täten sie es sofort wieder. Ich
bin überzeugt, daß das nicht stimmt, daß sie nicht die Wahrheit
sagten, daß sie irgendwie aus Eitelkeit und Masochismus übertrieben.«
[M.A. Antonioni, Cinema Nuovo, 15. März 1954, Zitat aus Premier Plan in Pierre Leprohon, 5.30]
Antonioni beschrieb diese Verkehrung
in der Psychologie seiner authentischen Darsteller als ein Element seiner kritischen
Auseinandersetzung mit den klinischen und moralischen Aspekten des Selbstmord-Phänomens.
Die Konzeption eines neorealistischen Zeit-Dokuments hatte eine präzisere
Gestaltung dieses Problems von Schein und Wirklichkeit, Psychologie und Verhalten
nur in Andeutungen möglich gemacht. Aber Antonioni berief sich auf seine
skeptische Haltung zu TENTATO SUICIDO, als man ihm nach diesem und seinen beiden
nächsten Filmen LE AMICHE und IL GRIDO ein obsessives Interesse am Selbstmord-Motiv unterstellte.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Selbstmordversuch
TENTATO SUICIDO
Italien 1953
Episode des Films
L’Amore in città. Liebe in der Stadt. – Regie:
Michelangelo Antonioni. Sujet, Buch: Michelangelo Antonioni, Cesare Zavattini.
- Buch-Mitarbeit: Aldo
Buzzi, Luigi Chiarini, Luigi Malerba, Tullio Pinelli, Vittorio Veltroni. - Kamera: Gianni Di Venanzo. - Kamera-Führung:
Enrico Menzer. - Schnitt: Eraldo Da Roma. - Ton: Giovanni Paris, Mario Messina.
- Musik: Mario Nascimbene;
Musikalische Leitung: Franco Ferrara.
- Bauten: Gianni Polidori. -
Regie-Assistenz: Aldo Buzzi, Francesco Degli Espinosa, Otto Pellegrini, Pierpaolo
Piccinato, Gillo Pontecorvo, Luigi Vanzi.
- Darsteller: Laien (in der von M.A. verantworteten Episode). - Produktion:
Faro-Film, Rom. - Gesamtorganisation: Alfredo Mirabile. - Produktionsleitung:
Marco Ferreri. - Gedreht 1953 in Rom. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge des ganzen Films: 96 min. – Deutsche
Länge: 90 min. - Länge der Antonioni-Episode: 20 min. - Uraufführung:
27.11.1953, Rom. – Deutsche Erstaufführung: 17.5.1957. - TV: 26.11.
1981 WDR III). - Verleih: offen. Der Film ist der erste Beitrag (»Rivista
cinematografica. Anno 1953. N 1«) der Reihe »Lo Spettatore«,
einer »gefilmten Zeitschrift«, die von Cesare Zavattini, Riccardo
Ghione und Marco Ferreri initiiert und geleitet wurde.
Titel und Regie der anderen Episoden: L'amore che si paga. Regie: Carlo Lizzani. - Paradiso per tre ore. Regie: Dino Risi. - Una agenzia matrimoniale. Regie: Federico Fellini. - Storia di Caterina. Regie:
Francesco Maselli, Cesare Zavattini. - Gli
italiani si voltano. Regie: Alberto Lattuada. - Die Stabangaben nennen die
Mitarbeiter aller Episoden. In der BRD wurde der Film zunächst unter dem
Titel »Liebe in der Großstadt« gestartet.
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