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Osama
Der
erste afghanische Spielfilm nach dem Ende der Taliban-Herrschaft. Die Laienschauspieler
spielen Szenen der Unterdrückung nach. Wir sind "Osama" hindurch
auf den Straßen Kabuls. Das gibt dem Film einen dokumentarischen Anstrich.
Die Handkamera suggeriert, daß wir an einer Frauendemonstration teilnehmen,
die von den Taliban brutal auseinandergetrieben wird. Wir flüchten in ein
Haus. Dort beratschlagen drei Frauen, wie es weitergehen soll. Großmutter,
Mutter und Tochter. Sie leben allein. Der Mann fiel vor vielen Jahren im Kampf
gegen die Russen. Und jetzt, 1996, darf eine Frau nur in männlicher Begleitung
auf die Straße. Was tun? Wie zur Arbeit kommen? Wie einkaufen? Die Lösung:
die Tochter, ein Kind von elf Jahren, wird als Junge verkleidet.
Damit
hat der Film seine Dramaturgie. Ein Abenteuer folgt dem nächsten. Alle
Abenteuer gehen schlecht aus. Denn der Pseudojunge kommt nicht gegen seine Mädchennatur
an, und Mädchen können nun einmal nicht auf Bäume klettern. Und
wenn es in der Not doch geschieht, dann läuft einem echten Jungen nicht
das Menstruationsblut die nackten Beine runter. Die Tochter ist enttarnt. Im
Gefängnis wartet sie auf den Prozeß.
Seine
Stärke hat der Film in der detaillierten, dokumentarisch anmutenden und
aufschlußreichen Beschreibung des Alltags im Kabul der Taliban. Das geht
über das ethnografische Interesse weit hinaus. Mit der Ausführlichkeit
der Sequenzen, die Alltagskultur vorführen, wächst die Anteilnahme
des Zuschauers. Denn dieser hat sich längst mit der Elfjährigen identifiziert,
die jetzt von den Taliban zusammen mit den Jungs eingesammelt wird und Unterricht
bekommt, also etwas, was Frauen verwehrt ist. In der Koranschule lesen und dabei
den Kopf nach vorn wippen. Das geht. Aber jetzt üben alle das rituelle
Waschen. Mit den Händen nicht an die Haut kommen. Drei Becher Wasser über
die linke Schulter, drei über die rechte und drei - vorher den Bund lockern
und niemals nach unten gucken! - am Nabel vorbeifließen lassen. Der Mullah
instruiert liebevoll. Wer feuchte Träume gehabt hat, ist Mann geworden.
Das allgemeine Interesse wendet sich jetzt unserem Jungen zu, der sich nicht
ausgezogen hat. Was ist mit ihm los? Der Mullah weiß die Antwort: einer
von den Nymphen, "das sind Jungs, die wie Mädchen aussehen und im
Paradies wohnen". - Das ging grade noch gut. Die Spannung war beträchtlich.
Übrigens wird der alte Lehrer das Kind, wieder definitiv Mädchen,
zwangsehelichen und ihr zur Hochzeit ein feines Vorhängeschloß schenken.
Die
Metapher für die Fraueneinschließung. Der Film gewinnt durch poetische
Einsprengsel. Unsere Heldin springt Seil. In der Stille sind nur die Geräusche
der Füße zu hören, lange.
Sehr
kurz und nur für Sekunden angespielt sind dagegen die Hinrichtungen einer
blonden ausländischen Ärztin (Steinigung) und eines Fotoreporters
(Todesstrafe). Hier ist dem Spektakulären des Bilderverbots und der Sharia
die Wirkung genommen. Zu notieren bleibt, daß der - bis Januar 2003 -
in Kabul gedrehte Film vom iranischen Ministerium für Kultur und Bildung
finanziert, mit Sachmitteln versorgt (Filmmaterial, Kameraausrüstung, Kopienherstellung)
und ideell unterstützt wurde. "Osama" wurde in Teheran geschnitten.
Der afghanische Regisseur Siddiq Barmak, der während der Talibanzeit nach
Pakistan emigriert war, hat im April 2003 die bis dahin iranisch geleitete Kinder-Erziehungs-Bewegung
(ACEM) übernommen, die heute in Kabul aktiv ist.
Dietrich
Kuhlbrodt
Der
erste afghanische Spielfilm nach der Taliban-Zeit. Seine Stärke verdankt
er der Genauigkeit, mit der er den Frauenalltag unter den Taliban dokumentiert.
Der Film lief in der Directors' Fortnight Cannes 2003.
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Osama - Afghanistan
/ Irland / Japan 2003 - Regie: Siddiq Barmak - Darsteller: Marina Golbahari, Mohmmad Nadre Khwaja, Mohmmad Arif
Herati, Zubaida Sahar, Hamida Refah, Gul Rahaman Ghorbandi, Mohmmad Nabi Nawa
- FSK: ab 12 - Länge: 82 min. - Start: 15.1.2004
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