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Orfeu
Negro
Farbenfroher
Karneval und tragischer Mythos
Wer
kennt sie nicht, die Geschichte von Orpheus? Inbegriff des Menschseins, schon
in der Antike, erfuhr der Mythos zahlreiche Variationen und Adaptionen durch
alle Zeiten hindurch, und 1959 auch eine ganz besondere im Film.
Der
antike Orpheus war ein Sänger, der die ganze Umwelt mit seiner Musik betören
konnte. Als seine geliebte Eurydike starb, begehrte er auf und zog bis in die
Unterwelt, erhielt seine verlorene Freundin zurück unter der Bedingung,
sie erst zurück auf der Erde anzusehen, und konnte sich dann doch nicht
beherrschen: Hinter sich blickend verlor er Eurydike endgültig und konnte
fortan nur noch traurige Melodien spielen.
Der
moderne Orpheus in dieser Verfilmung ist Straßenbahnschaffner in Rio de
Janeiro. Der Karneval tobt, die Straßen sind voll von tanzenden und ausgelassenen
Menschen, Orpheus lernt auf einer seiner Fahrten durch die brasilianische Metropole
eine junge, neu zugereiste Dame kennen, zeigt ihr am Ende der Fahrt den Weg
auf den Zuckerhut zu ihrer Unterkunft und lernt sie dort dann besser kennen,
da sie nahe bei seiner eigenen Hütte wohnt. Unterdessen hat er aber auch
noch mit Mira, seiner Verlobten, die Straßen tanzend und ausgelassen unsicher
gemacht und mit Hermes, dem antiken Götterboten und modernen Verwalter
des Straßenbahndepots, einige Worte gewechselt. Und ja, natürlich
verlieben sich Orpheus und Eurydike ineinander, wie es sich gehört, und
der Tod kommt unter der Maske während des Karnevals.
Aber
alles das ist nur sekundär wichtig. Ohne Zweifel ist die Aktualisierung
des Mythos inhaltlich voll und ganz gelungen, der Film zeigt, was davon heute
noch unter anderem relevant sein könnte und ist auch trotz der Kenntnis
des groben Handlungsablaufs, die wohl jeder einigermaßen Gebildete aufzuweisen
hat, spannend. Das, was diesen Film aber so besonders macht, ist das Drumherum.
Der
Film spielt, wie bereits erwähnt, in Rio de Janeiro, und das zur Zeit des
Karnevals. Entsprechend sind in praktisch allen Szenen in Vorder- oder Hintergrund
ausgelassen Tanzende zu sehen, Musizierende, Feiernde, Fröhliche. Diese
pure Lebensfreude wirkt unglaublich ansteckend und wird auch liebevoll in Szene
gesetzt, wenn etwa eine Sequenz nicht mit dem Abtreten der Protagonisten endet,
sondern noch durch ein kleines artistisches Kunststück fortgesetzt wird.
Die Farben sind extrem bunt, und trotz des Alters des Films sind sie auch heute
noch ebenso klar und wirkungsvoll, wie sie wohl damals bei den ersten Aufführungen
gewesen sein müssen. Die Kamera scheint manchmal gar nicht mehr zu wissen,
wohin sie gehen und woher sie kommen soll, muß also mitten in das Geschehen
hinein und sorgt so für einen semidokumentarischen Effekt, der den Zuschauer
noch weiter in die Handlung mit hineinreißt.
Dann
muß über die Musik geredet werden: Während 107 Minuten, die
dieser Film währt, ist ebenfalls praktisch ununterbrochen Musik zu hören,
Bassa Nova, geschrieben von den damaligen Gurus dieser Szene, nämlich Luiz
Bonfa und Antonio Carlos Jobim. Wenn man die größten Stars nimmt,
kann man manchmal auch Pech haben, hier ist es nicht so: Die Musik unterstützt,
verstärkt, interpretiert die Bilder ebenso wie die Geschichte, schafft
es aber auch, manchmal eigenständig daneben ein selbständiges Leben
zu führen. Wer aus technischem Interesse einmal sehen möchte, was
Filmmusik alles zu leisten imstande ist, wenn man sie nur läßt, der
schaue sich diesen Film an: Nur Stanley Kubrick schaffte es in vergleichbarer
Art und Weise, in seinen Filmen mit Musik zu arbeiten.
Die
Schauspieler sind praktisch alle Laien, die zumeist nur diese eine Rolle gespielt
haben. Alle drei Hauptdarsteller sind in keinen weiteren bekannten Werken mehr
aufgetreten, leisten aber das, was sie hier leisten sollten: Authentisch sein,
Lebensfreude versprühen, echt wirken. Und das alles verdankt man natürlich
auch dem Regisseur, der das alles inszenierte: Marcel Camus. Und der ist nun
wirklich kein Unbekannter mehr, hat das Lyrische in praktisch allen seinen Werken
eingearbeitet und mit „Orfeu Negro“ auch gleich in Cannes den Wettbewerb und
die Goldene Palme gewonnen.
„Orfeu
Negro“ schafft etwas, das im Film sehr selten ist: Dokumentar- und Spielfilm
zugleich zu sein, spannender Mainstream- und atmosphärischer Kunstfilm
zugleich. Die Dokumentation über den brasilianischen Karneval könnte
man nicht besser drehen, die Aktualisierung des Mythos aber ist ebenso gelungen.
Die spannende Geschichte um Liebe und den Mörder im Todeskostüm funktioniert
als Thriller, ebenso aber das Ganze auch als Arthouse-Werk.
Benjamin
Stello
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei www.ciao.de
Orfeu
Negro,
Brasilien/Frankreich/Italien 1959
Regie:
Marcel Camus (Der Vogel im Paradies, Das Lied der Welt, Rio Negro).
Darsteller:
Breno Mello, Marpessa Dawn, Lourdes de Oliveira (alle mehr oder weniger unbekannt).
Länge:
107 Minuten, freigegeben ab 12 Jahren.
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