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O
Amor Natural
Dieser
groß- und einzigartige Lyrik-Dokumentar-Film ist ein Glücksfall für
das Kino. Die in Peru geborene Dokumentarfilmerin Heddy Honigmann (Metal
y Melancolia,
1993) ging mit ihrer Kamera auf die Straße, um die Wirkung des in Brasilien
ebenso berühmten wie populären Lyrikers Carlos Drummond de Andrade
(1902–1985) einzufangen, Passanten zu Wort kommen und sie aus der posthum veröffentlichten
erotischen Anthologie „O Amor Natural" vorlesen zu lassen – das war die
befreiende Tat, die von der sonst üblichen TV-Bevormundung (Off-Kommentar)
oder der Kunstfilm-Vereinnahmung (Umsetzung des Lyrik-Worts in cineastische
Formeln) befreit. O
Amor Natural
ist Rezeptions-Ereignis und Lyrik live, unwiederholbar. Die Dichter-Worte werden
existent, wenn sie gelesen und gesprochen werden – mitten auf dem Markt, in
der Straßenbahn, am Strand, unter der Dusche. Mitunter mühselig abgelesen
(„wo ist die Brille?"), immer aber mit vehementer eigener Beteiligung.
Drummond de Andrades erotische Gedichte verbinden sich mit den erotischen Erfahrungswelten
der Leser. Und da diese in Honigmanns Film im selben vorgerückten Alter
sind, wie der ebenso rüstige wie vitale Dichter zur Zeit der Text-Entstehung
(Ende siebzig, Anfang achtzig), gibt es genug Berührungspunkte, um etwas
Neues entstehen zu lassen. Die alten Leute, reich an erotischer Erfahrung und
abgeklärt, berichten würdevoll und mit Vergnügen von sexuellen
Erlebnissen. Auf der Klippe am Meer. Auf dem Fußboden.
Der
Dichter hatte sich zeitlebens den Vorwurf der Pornografie nicht einhandeln mögen.
Der Arbeiter im Film gibt dazu die Antwort: „Erotik und Sexualität gehören
zusammen." Er sagt dies mit natürlicher Autorität. Es ist faszinierend
zu sehen, wie der Film funktioniert: der Respekt vor dem Alter wächst in
dem Maße, wie die Alten respektlos und erleichtert von ihren sexuellen
Erlebnissen mit einer Drastik berichten, deren wörtliche Wiedergabe eine
Textredaktion zum sofortigen Eingreifen veranlassen würde. Dem Film-Bild
dagegen bleibt die Wiedergabe belassen: Den Alten ist es eine Lust, dank Dichter
und Filmemacherin endlich sich erotisch-sexuell artikulieren zu können.
Poesie ist so gefilmt, wie der Mann auf der Straße sie liest: mit persönlichen
Anmerkungen und intimen Ausschweifungen. Wer würde es wagen, sich dieser
Wahrheit entgegenzustellen?
Eine
vitale Achtzigjährige zieht im Schwimmbecken ihre Bahnen. Schmetterlingsstil.
Sie sieht aus wie Leni Riefenstahl. Hat die Augen von Leni Riefenstahl. Spricht
von Leni Riefenstahl. Als 21jährige Olympiaschwimmerin, Meisterin des Schmetterlingsstils,
war sie 1936 in Berlin von ihr gefilmt worden. Sie ist stolz auf diese Begegnung.
Unter der Dusche rezitiert sie: „Unter der Dusche lieben, Seife und Küsse/oder
in der Badewanne lieben, mit Wasser bekleidet/schlüpfrige Liebe flieht,
haftet/flieht von neuem, Wasser in den Augen, Mündern/ Tanz, Schiffahrt,
Tauchen, Regen/ Schaum auf den Bäuchen/das dreieckige Weiß des Geschlechts
– ist es Wasser, Sperma/ schwindende Liebe, oder sind wir eine Quelle geworden?"
Es
gibt viel zu lesen in diesem Film, denn der (deutsche) Text läuft als Untertitel
davon. Beneidenswert, wer portugiesisch spricht oder die Übersetzung aus
dem brasilianischen Portugiesisch kennt. Aber es geht nicht anders. Grade hier
wäre eine Synchronisation Todsünde. Curt Meyer-Clason, Säulenheiliger
der Brasil-Szene, hat ins Deutsche übersetzt; der 87jährige ist auch
dem Alter nach kongeniale Respektsperson. Er selbst hätte auch was zu erzählen.
Aber er kommt nicht ins Bild. Auch wäre das, was zu sagen wäre, nicht
sexueller, wohl aber politischer Natur. Vor einigen Wochen wurde bekannt, daß
er, als ehemaliger Direktor des Goethe-Instituts in Lissabon und als Galionsfigur
der portugiesischen Linken (taz 16.1.98), zuvor in Rio de Janeiro als Nazispion
zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Als die Riefenstahl in Berlin
die Schwimmerin filmte, war er schon sieben Jahre in der SA. Es wäre spannend,
wenn es Heddy Honigmann gelänge, einen katalysatorischen Film zu drehen,
der zur Wiedergabe erster, zweiter und weiterer politischer Erlebnisse reizen
würde.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
o
amor natural
Niederlande
1996. R und B: Heddy Honigmann. P:
Pieter van Huystee. K:
José Guerra. Sch:
Marc Nolens. T: Noshka van der Lely. Pg:
TV/NPS TV. V: Pegasos. L: 76 Min. FSK: 12, ffr. DEA: Filmfest Hamburg 1997.
St: 5.3.1998.
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