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Nostalghia
»Nun liegt also mein erster
Film hinter mir, den ich nicht in der Heimat drehte« [Andrej
Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Berlin, Frankfurt: Ullstein 1985, S. 226], notierte Tarkowskij nach Beendigung
der Arbeiten an NOSTALGHIA. Mit sowjetischer Genehmigung, frei von bürokratischen
Einmischungsversuchen, allerdings unter erheblichen finanziellen Schwierigkeiten,
hatte er seinen sechsten langen Film in Italien produziert: im Auftrag des Fernsehkanals
RAI RETE 2 und unter Beteiligung des französischen Verleihs Gaumont, mit
einem italienischen Kameramann (Giuseppe Lanci) und (den Hauptdarsteller ausgenommen)
westeuropäischen Schauspielern.
Im Mittelpunkt der Filmhandlung
steht der russische Schriftsteller Andrej Gortschakow, der nach Italien reist,
um Material für ein Opernlibretto über das Leben eines Landsmannes,
des ehemaligen Leibeigenen Pawel Sosnowskij, zu sammeln. Dieser Sosnowskij ist
nach Auskunft des Regisseurs eine historische Figur; er hat vor etwa zweihundert
Jahren gelebt. »Da er musikalische Fähigkeiten zeigte, hatte ihn
sein Gutsbesitzer zum Studium nach Italien geschickt, wo er lange blieb und
mit großem Erfolg Konzerte gab. Doch da er offensichtlich von der unausbleiblichen
russischen Nostalgie heimgesucht wurde, entschloß er sich, nach langen
Jahren wieder in das Rußland der Leibeigenschaft zurückzukehren,
wo er sich kurz darauf erhängte.« [Tarkowskij, a. a. O., S.227]
Das Schicksal Sosnowskijs wird
im Film nur angedeutet, aber es findet sein Echo in der Gemütsverfassung
und dem persönlichen Los Gortschakows, der am Ende des Films, fern der
Heimat, sterben wird. Tarkowskij starb etwa vier Jahre nach Beendigung von NOSTALGHIA
als Exilant in Paris; zuvor hatte er notiert, »der Zustand niederdrückend-auswegloser
Trauer, der diesen Film durchzieht« [Tarkowskij, a. a. O., S.226], sei zum Stigma seines eigenen Lebens geworden. Als er zum erstenmal
das Material des abgedrehten Films gesehen habe, sei er von der Dunkelheit der
Bilder überrascht gewesen. Es sei symptomatisch, »daß die Kamera
unabhängig von meinen konkret geplanten Absichten vor allem auf meinen
inneren Zustand während der Dreharbeiten reagierte« [Tarkowskij,
a. a. O., S.228].
Traumwandlerisch also, so ist
daraus zu schließen, hat Tarkowskij dem Film, der ein »Abdruck der
menschlichen Seele« werden sollte, die Ahnung des eigenen Schicksals eingraviert.
Schon die Umstände, unter denen NOSTALGHIA entstand, enthalten jene Merkmale,
die aus diesem Film einen Kultfilm der achtziger Jahre gemacht und ihm - nimmt
man seine Rezeption in intellektuellen Cineastenkreisen zum Maßstab -
zu einer ziemlich beispiellosen Aura verholfen haben.
*
Die Reise Andrej Gortschakows
(Oleg Jankowskij) und seiner italienischen Dolmetscherin Eugenia (Domiziana
Giordano) führt zunächst zur Marienkapelle von Monterehi mit dem berühmten
Bildnis der Madonna
del Parto
von Piero della Francesca. Der Schriftsteller weigert sich, die Kapelle zu betreten;
so wird Eugenia allein zur Zeugin einer von Bauersfrauen zelebrierten Anrufungslitanei,
zu der ihr jede innere Beziehung fehlt. Wenig später befinden sich Andrej
und Eugenia in Bagno Vignoni - jenem Badeort in der Toskana, der dem Russen
zum Schicksal werden wird. Das von ihm gehegte, von Kunst und Musik übergoldete
Idealbild Italiens und die Erfahrung der italienischen Realität brechen
auseinander; die Fremdheit zwischen den Menschen wird für ihn, der schon
als Grübler und zur Schwermut neigender Außenseiter nach Italien
kam, zum Trauma. Bei den Thermen von Bagno Vignoni begegnet ihm der alte Mathematiker
Domenico (Erland Josephson), ein anderer Einsamer, zu dem sich Andrej stark
hingezogen fühlt. Den Einwohnern und Badegästen des Ortes gilt Domenico
als verrückt, seitdem er sich mit seiner Familie sieben Jahre lang in seinem
Haus eingeschlossen hatte, um das Ende der Welt abzuwarten. (Die schließlich
erfolgte Räumung des Hauses durch die Polizei wird in kurzen, »dokumentarisch«
gehaltenen, zugleich albtraumhaft wirkenden Rückblenden erzählt.)
Andrej bittet Eugenia, einen Kontakt
zu dem Alten herzustellen. Dies mißlingt, und die junge Italienerin, die
erkennen muß, daß ihre Liebe zu Gortschakow auf Ablehnung stößt,
erklärt ihre Tätigkeit als Dolmetscherin für beendet. Nach einer
heftigen Auseinandersetzung im Hotel, in der sie ihm vorhält, er sei nichts
als ein langweiliger Heiliger, reist sie nach Rom zurück. Andrej besucht
Domenico in seiner Behausung, der Ruine eines alten Gebäudes, die er mit
seinem Schäferhund als Eremit bewohnt. Der alte Mann vertraut seinem Besucher
seine geheimen Pläne an: es gelte, »etwas Wichtiges zu machen«;
man müsse »große Ideen« haben. »Früher war
ich Egoist und wollte meine Familie retten. Man muß alle retten, die ganze
Welt! Es ist ganz einfach.« Domenico fordert Gortschakow auf, an seiner Stelle mit einer
brennenden Kerze die der Heiligen Katharina von Siena geweihte Therme von Bagno
Vignoni zu durchqueren - er selbst werde von den Einwohnern, die ihn für
verrückt hielten, daran gehindert.
Andrej, nunmehr allein, leidet
an Heimweh nach Moskau. Betrunken durch knietiefes Wasser watend, umgeben von
verfallenem, grünüberwuchertem Gemäuer, deklamiert er Gedichte
von Arsenij Tarkowskij. In einer Traumszene identifiziert er sich mit Domenico
und seinem Schicksal. - Die Szene wechselt nach Rom; Andrej ist im Begriff,
in seine Heimat zurückzufliegen. In seinem Hotel erreicht ihn ein Anruf
von Eugenia; sie berichtet, daß auch Domenico sich in Rom aufhalte und
wissen wolle, ob Andrej seinen Wunsch erfüllt habe. Dieser fährt zurück
nach Bagno Vignoni. Während Domenico auf dem Kapitolshügel in einer
flammenden Rede den Irrweg der modernen Zivilisation anprangert und sich schließlich,
auf dem Reiterstandbild Marc Aurels stehend, mit Benzin übergießt
und selbst verbrennt, geht Andrej an die Ausführung seines Auftrags. Zweimal
trägt er eine brennende Kerze durch das nun ausgetrocknete Thermalbad -
zweimal erlischt sie. Erst beim drittenmal gelingt es ihm, die Flamme am Leben
zu halten - unter Qualen erreicht er den Beckenrand, wo er tot zu Boden sinkt.
Das letzte Bild zeigt Andrej mit Domenicos Schäferhund in einer russischen
Landschaft vor einer Holzhütte lagernd; mit der Rückfahrt der Kamera
wird sichtbar, daß diese Szenerie in das Innere einer gewaltigen, nach
oben offenen italienischen Kirchenruine eingebettet ist.
*
Ist diese Handlung nun - sofern
nicht diese Bezeichnung schon deplaciert ist - im klassischen Sinne das »Gerüst«
des Films, das die Bilder zusammenhält, ihren Fluß bindet und ihn
in mannigfachen Verstrebungen zu einer Geschichte fügt? Eher sind die erzählbaren
Elemente dieses Films seine profanen Rückstände: das einer kultischen
Rezeption sich widersetzende Restmaterial. Man kann ein mittelalterliches Altartriptychon
nicht beschreiben, indem man die auf ihm dargestellten Vorgänge »erzählt«.
Der Regisseur selbst hat sich mehrfach kategorisch gegen das narrative Kino
ausgesprochen: die Filmkunst müsse, vergleichbar allenfalls der Lyrik oder
der Musik, ihre eigenen autonomen Strukturen herausbilden. Für NOSTALGHIA
gilt noch mehr als für die früheren Filme Tarkowskijs, daß kultische
Rezeption die Ausgrenzung des Erzählbaren, soweit ihm noch Logik und Kontinuität
anhaften, nachgerade zur Bedingung macht. Nicht nur, daß die »Geschichte«
die Aura dieses Films keineswegs erklärt - sie steht ihr genaugenommen
im Weg; wer ihren Inhalt referiert, riskiert es, die kultische Stimmung zu zerstören.
Schon der Titel ist geeignet,
sie zu stimulieren. Das russische »nostalghia« hat allerdings mit
dem Modebegriff »Nostalgie« nicht viel gemeinsam. Tarkowskij sprach
»von der russischen Form von Nostalgie . . ., von jenem für unsere
Nation so spezifischen Seelenzustand, der in uns Russen aufkommt, wenn wir weit
weg von der Heimat sind« [Tarkowskij, a. a. O., S.226]. Dieses Heimweh darzustellen, empfand er sogar als seine patriotische
Pflicht - sicher nicht nur eine Schutzbehauptung gegenüber den sowjetischen
Partei-Patrioten. Im gleichen Zusammenhang bezeichnete er jenen Schmerz, der
Gortschakow erfüllt, als eine Empfindung, »die nicht nur seiner geografischen
Ferne von der Heimat, sondern auch einer globalen Trauer um das ganzheitliche
Sein entspringt« [Tarkowskij, a. a. O., S.229]. Einer Grundveranlagung also, der etwa seit der Romantik der
Weltschmerz entspricht, jene spezifisch deutsche Ausprägung eines fundamentalen
Unbehagens an der Welt, wie sie aufgebaut ist. Verwandt ist sie auch der Disposition
Hamlets, seinem Sendungsbewußtsein wie seiner Trauer: »Die Zeit
ist aus den Fugen. Schmach und Gram,/Daß ich zur Welt, sie einzurichten,
kam.«[Hamlet, 1.Akt, 5. Szene; hier zitiert nach der Übersetzung
von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. Ursprünglich hatte Tarkowskij
geplant, nach NOSTALGHIA den Hamlet-Stoff zu verfilmen.] An anderer Stelle schließlich
nannte der Regisseur seinen Film »die Geschichte einer Krankheit, eines
Gedächtnisverlustes«: »Eine Krankheit, die einem jede Lebenskraft
nimmt, jede Energie, jede Freude am Leben ... Vielleicht könnte man die
Nostalghia mit dem Verlust des Glaubens, der Hoffnung vergleichen.«
[zit. n. Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1984] Hier tritt eine religiöse
Komponente hinzu; sie macht das Bild keineswegs klarer.
Wenn der Urheber selbst drei Bedeutungsvarianten
mit ihrem jeweils breiten semantischen Spektrum vorschlägt, öffnet
er einer wildwuchernden, risikolos spekulierenden Exegese Tür und Tor -
ja, er kommt bereitwillig einer Stimmung entgegen, deren Kennzeichen ihrerseits
begriffliche Unschärfe ist, Verzicht auch auf historische und kulturelle
Differenzierungen. NOSTHALGIA stieß beim westlichen intellektuellen Publikum
offenbar auf eine Erwartungshaltung, die auch, aber nicht nur durch die früheren
Filme Tarkowskijs vorbereitet war.
In der bundesdeutschen Filmkritik
war, als der Film 1984 in die Kinos kam, die Entschlossenheit zu einschränkungsloser Bewunderung
beachtlich. Sie umfaßte lückenlos die gesamte politische Skala von
den konservativen bis zu den progressiven Positionen; bürgerliche und alternative
Blätter redeten einmütig - auch terminologisch unisono - mit begeisterter
Zunge. Von Friedrich Luft in der Welt bis zu Ponkie in der Münchner AZ: wortreiche Sprachlosigkeit der Adoration. Der sprachmächtige
Altmeister des Feuilletons, Friedrich Luft, pries in seiner relativ kurzen Rezension
(sich sechsmal wiederholend) die »betäubende Schönheit und Tiefe«
des Films, die »immer wieder betäubenden Bilder und Sequenzen«,
in der die »betäubenden Ansichten der mediterranen Welt« geradezu
»süchtig aufglühen« [Friedrich Luft, in: Die Welt vom 25. August 1984]. Und Ponkie befand: »Ein poetischer Trauertraum . . . Nur
erklären wollen sollte man ihn nicht.« [Ponkie, in: AZ München vom 14. Februar 1984]
Kapitulationsbereitschaft, die
sich im Verzicht auf Analyse äußert und ihn auch sprachlich demonstriert,
hat gesellschaftliche Wurzeln. Wolfram Schütte hat sie in seiner Rezension
genau benannt: »Melancholie - die
Intellektuellen-Krankheit des Jetztzeitalters. Sie stellt sich ein, wenn der
Goldrand der Utopie verbleicht, Hoffnung und Glaube, die ein Ziel hatten, in
die Schatten wachsender Zweifel treten und das Bewußtsein (oder auch nur
die Empfindung) von unwiederruflichen Verlusten sich ausbreitet ... Morbidität
hat dann nicht den scharfen Reiz zynischer décadence, sondern die Weichheit
sentimentalen Versinkens im allein noch wärmenden Schmerz.« [Wolfram
Schütte, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1984] NOSTALGHIA ist - weitaus radikaler als STALKER - ein Film der Melancholie und wurde zum gemeinsamen Erkennungszeichen
einer (in Deutschland traditionell hauchdünnen) Schicht gebildeter, kulturpessimistisch
gestimmter Konservativer und einer ehemals himmelstürmenden, heute enttäuschten
Intelligenz.
Das Italien dieses Films ist eine
Krisenlandschaft, in der, was einmal méditerranée, Wiege des Abendlands,
glorreiche Geschichte war, nun in verfallenden Denkmälern vor sich hin
brütet. Von den »Trümmern einer allmenschlichen und zugleich
fremden Zivilisation«, »Grabdenkmälern der Vergeblichkeit menschlicher
Ambitionen« [Tarkowskij, a. a.0., S.230] hat
Tarkowskij selbst gesprochen. In den dunklen Bildern, im schwerblütigen
Rhythmus seines Films fließen Feierlichkeit und Trauer zu jener Stimmung
zusammen, in der bekümmerte Seelen dem Verdämmern der eigenen Gedanken
nachhängen. Nebelschwaden über den Hügeln der Toskana, weiße
Schwefeldämpfe über den Thermen von Bagno Vignoni: Betrübungen
und Eintrübungen begegnen dem Blick, belagern das Bewußtsein und
lähmen die Impulse, die am Leben hängen. Italien als nature morte,
als enigmatische Ruinenlandschaft, die allmählich ins Halbdunkel-Konturenlose
abgleitet - und in eine allgegenwärtige Feuchtigkeit, die unablässig
organisches Leben fortzeugt in einer Welt, die spirituell längst dem Tod
gehört: mal rieselnd, mal sickernd, mal metallisch tropfend, schwängert
sie die Luft, bildet Lachen, regnet durch zerbrochene Dächer in die Häuser
oder senkt sich - im letzten Bild - als Schneeschleier vom offenen Himmel der
Kathedrale unendlich langsam auf die bukolische Szene aus dem alten Rußland.
Wasser ist das beherrschende Element
in NOSTALGHIA - zu ihm gesellt sich das Licht, das, aus halb verborgenen Quellen
aufleuchtend, sich wie eine Haut über die Dinge legt, Inseln der Helligkeit
heraushebt, sie wieder verdämmern läßt und, zusammen mit den
Bewegungen der Kamera, die düsteren Tableaus in ein Netz aus vielerlei
Reflexen einzuspinnen scheint. »In meinem Film gibt es Kameraeinstellungen
mit bis zu achtzehn Lichtveränderungen; lange Kamerafahrten, die von der
Realität in die Erinnerung führen, von dort in einen Traum und zurück
in die Realität.«
[zit.n. Der Spiegel Nr.6/1983, S.193] Was in DER SPIEGEL noch überwiegend der Schnitt leistete,
Montage als Kombinatorik des Gegensätzlichen, das übernimmt hier das
fließende, atmende Licht, übernehmen die Beleuchtungsveränderungen
im Bild: Gortschakow liegt in seinem fast leeren Hotelzimmer auf dem Bett; das
Licht hebt die Buckel auf der kalkweißen Wand wie auf einer Reliefkarte
hervor, plötzlich erlischt der helle Schimmer auf dem Spiegel im angrenzenden
Bad, das ganze Zimmer verdunkelt sich, Gortschakow sinkt in eine Welt des Traums,
der »russische« Schäferhund liegt an seiner Seite. Fremdvertraute
Geräusche, tropfendes Wasser, das Klingeln eines Telefons umspielen diese
Szene und gehen über in Regenrauschen, das sich mit der Dunkelheit verstärkt,
bis es ganz gleichmäßig geworden ist.
Ähnlich wie in DER SPIEGEL und STALKER erschließt sich über das Räumliche und seine
Veränderungen die Erfahrung der Vergänglichkeit, »öffnet
sich, über Blicke, Gesten, versunkene Poesie und Lichtwechsel hinweg, die
vierte Dimension: die Zeit« [Bruno Jaeggi, in: Basler Zeitung vom 25. August 1984]. Gelähmter Lebenswille scheint besonders empfänglich
für das Verfließen der Zeit ebenso wie für den Eindruck ihres
Stillstands zu sein - wie umgekehrt eine vita activa Zeit lediglich an ihren
eigenen Bewegungen mißt und als Funktion ihrer Handlungen wahrnimmt. »Minutenlang
läßt Tarkowskij die Bildeinstellungen auf der Leinwand stehen, so
als sei aus ihnen wie aus seiner Hauptfigur jede Energie gewichen«, schrieb
Michael Schwarze, und er fügte hinzu, gerade in dieser Melancholie des
Energieverlusts spiegle sich das Lebensgefühl einer Welt, »die sich
ihrer heroischen Illusionen beraubt sieht und sich fatalistisch eingerichtet
hat in einer Wirklichkeit, die nun einmal ist, wie sie ist.« [Michael
Schwarze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Mai 1983]
Die resignative Trauer, die einer
kultischen Rezeption dieses Films zugrundeliegt, ist nicht frei von einem Hang
zur Selbstaufgabe; zu morbider Passivität, die aus Trauer keine Kraft mehr
zieht. »Morbid« bedeutet »kränklich«, aber auch
»weich«, »mürbe«; das italienische »morbidezza«
bezeichnet die weichen, zart verschwimmenden Töne in der Malerei. Es ist
diese morbidezza, die Tarkowskijs Bildern, ihren Licht- und Farbschwankungen
entströmt - und sie trifft offenbar in der gegenwärtigen Situation
auf eine Bereitschaft, nicht nur die Bilder, sondern auch die eigene Lähmung,
die sich in ihnen spiegelt, ästhetisch zu genießen. Wenn Tarkowskijs
Filme, wie häufig geschrieben wurde, »süchtig machen«,
dann auf das Versinken im eigenen Seelenzustand - ein Versinken, dem eine unendliche
Bedeutungsvielfalt insofern entgegenkommt, als das Vage, Unbestimmte, Zerfließende
sein homogenes Fluidum ist.
Kultfilme sind Surrogate in einer
Zeit, der das Kultische längst abhanden kam. Modefilme wäre die treffendere
Bezeichnung. NOSTALGHIA weist alle Attribute eines Modefilms auf und ist dennoch
mehr. Seine melancholische Ausstrahlung entfließt zwar vordergründig
einer mit höchster filmischer Raffinesse erreichten Suggestivkraft der
Bilder, die es dem Zuschauer erlaubt, sich ihrem Sog zu überlassen in weitgehender
Indifferenz gegenüber Inhalt, Fabel, Symbolstruktur und Bildbedeutungen.
Doch die avancierten filmischen Mittel verschleiern eher eine im Inneren des
Films angelegte, komplizierte Konkordanz von Bildern, Chiffren und Zitaten,
die der heidnisch-antikischen Mythologie und der christlichen Kunst entstammen.
Eva M.J.Schmids Studie Nostalghia/Melancholia [in: Jahrbuch Film 83/84. Hrsg. von Hans Günther Pflaum. München: Hanser
1983, S.142ff]
ermöglicht Einblicke in ein Beziehungsgeflecht saturnischer Symbole, dessen
Entzifferung kunsthistorisches Wissen voraussetzt und auf dieser Grundlage für
den Forscher ungeahnte Entdeckerfreuden (und -leiden) bereithält. Das Problem
ist freilich: auch hermetisches Wissen zirkuliert im Bannkreis der Melancholie.
Es verlangt als Spezialtyp den belesenen, dechiffrierungsbesessenen, detektivisch
arbeitenden und insoweit »aktiven« Melancholiker. Seine Arbeit ist
eine Antwort auf jene »Weichheit sentimentalen Versinkens«, die
nur ästhetisch genießt. Aber auch
sie findet in den Ruinen statt:
gegenwartsfern und von der Geschichte (die ja mehr ist als nur das Grab menschlicher
Ambitionen) abgewandt.
NOSTALGHIA ist, zweifellos mit
Recht, als Reflexion über die Begegnung zweier Kulturen gedeutet worden.
Schon während der Dreharbeiten hatte Tarkowskij verlauten lassen, sein
Held Gortschakow sehne sich nach etwas, das es nicht gebe - nämlich, »daß
Rußland und Italien nur eine Sache, also eine große Einheit«
[zit. n. Stuttgarter Zeitung vom 14. Dezember 1982] seien. Sosnowskij/Gortschakow/Tarkowskij
sehnen sich nach Italien, so wie sie sich in Italien vor Heimweh nach Rußland
verzehren. In einem der schwarzweiß gefilmten Heimweh- und Erinnerungsträume
Andrejs begegnen sich seine Frau Maria (=Rußland) und Eugenia (=Italien)
mit einer Geste der Zärtlichkeit - doch am Ende, wenn Eugenia sich der
Kamera zuwendet, ist ihr schönes Botticelli-Gesicht tränenüberströmt:
»Andrej hat sich für Rußland und gegen Italien entschieden«
[Schmid, a. a.0., 5.146].
Mit Domenico identifiziert sich der Russe in der Inbrunst des Glaubens, aber
wohl auch, weil dieser Narr in Christo weit weniger lateinische Katholizität
als die Spiritualität der Figuren Dostojewskijs und Tolstois verkörpert;
wenn Andrej in einen Spiegel blickt, sieht er ins Antlitz Domenicos. Die Lyrik
Arsenij Tarkowskijs hält er, wie Poesie überhaupt, für unübersetzbar;
eine italienische Ausgabe der Gedichte, die ihm Eugenia (als Dolmetscherin sucht
sie gerade über die Sprache eine Brücke zwischen den Kulturen) überreicht,
schleudert er von sich; später verbrennt er sie. Auch die Musik - ein Wiegenlied
von Mussorgskij und Verdis Requiem - ist jeweils leitmotivisch der einen oder der anderen Kultursphäre
zugeordnet, zwischen denen letztlich keine Kompatibilität besteht.
So ist denn auch das hieroglyphische
Schlußbild - das russische Bauernhaus im Mittelschiff einer italienischen
Kathedrale - kaum als Bild der Hoffnung auf eine mögliche Symbiose zu verstehen:
in seiner abgründigen Traurigkeit und weltenfernen »Unwirklichkeit«
formuliert es eher die endgültige Absage an eine schöne Idee. Vielleicht
ist auch eines der rätselhaftesten Bilder des Films in diesem Sinne zugleich
Sehnsuchtsbild und Epitaph: in Domenicos verfallener Wohnung blickt Andrej durch
eine Tür auf einen von Schlammbergen und Rinnsalen bedeckten Kachelboden,
aus dem, während die Kamera auf ihn zufährt, ein Landschaftsrelief
wird; die Totale, zu der sich das Bild schließlich weitet, vereint russische
und italienische Landschaftselemente und könnte, wie E.M.J.Schmid vorschlägt,
der »Traum von einer heilen Welt nach der Katastrophe der Abfallschwemme«
[Schmid, a. a.0., S.159] sein - aber auch der Traum von der Einheit zweier (Kultur-)Landschaften.
Aber eben nur: der Traum. Auch das Thema kultureller Begegnung und Konfrontation
versinkt in Melancholie.
Die verbalen Kommentare des Dialogs
zu dieser Frage sind - wie etwa Andrejs Feststellung, man müsse »die
Grenzen einreißen« - recht phrasenhaft und, in Anbetracht des tiefen
Risses zwischen den Welten, bemerkenswert unangemessen, nicht anders als viele
öffentliche Äußerungen des Regisseurs. Von der Zeitschrift tip zu einer politischen Stellungnahme gedrängt, bequemte sich
Tarkowskij zu Allgemeinheiten: der Mensch habe kein Recht, »unseren Planeten
mit Stacheldraht zu trennen und die Trennung mit Hilfe von Atomwaffen zu schützen.
Das ist eine unmenschliche Tätigkeit.« [Interview Irena Brezna, in: tip Nr.3/1984, S.30] Aus
der Gewalttätigkeit des Menschen seien neue Probleme entstanden: die Nostalgie,
die Zivilisation, die Konfrontation. Ähnlich wie die christliche Sündenlehre,
die in der Trägheit die Wurzel aller anderen Defekte des Menschen sieht,
betrachtet Tarkowskij die nostalghia als Grundübel der modernen Welt. Wie
kann sie überwunden werden? Der Regisseur meinte: »Das wäre
nur durch gegenseitiges Opferbringen möglich. Ein Mensch, der unfähig
ist, Opfer zu bringen, darf auf nichts zählen.« [Interview Irena Brezna, in: tip Nr.3/1984, S.30]
Wie alle Filme Tarkowskijs erzählt
auch NOSTALGHIA die Geschichte von Menschen, die sich opfern: Domenico stirbt
als Märtyrer in Feuersflammen, die auch Christi Licht bedeuten - jenes
Licht, das Andrej Gortschakow auf seinem unendlich mühsamen Gang durch
die Therme zu bergen hat, bevor er stirbt. Die Frage ist, ob solche Bilder,
die vom Geist der Aufklärung emphatisch Abschied nehmen, wirklich eine
neue Humanität stiften können - ein Menschenbild jenseits von Nostalgie,
Zivilisation und Barbarei. »Die Ambivalenzen sollen größer
werden und die Sicherheit der Begriffe in den Zweifel der Gefühle stürzen«
[Karsten Witte, in: Der Spiegel Nr.4/1984, S. 163], schrieb Karsten Witte über
NOSTALGHIA. Aber die Ambivalenzen lösen sich im Nebel der Schwermut auf
- und in den Bildern vom Opfertod erstarren sie abermals zum emblematischen
Begriff.
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Andrej Tarkowskij; Band 39 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Nostalghia
NOSTALGHIA
Frankreich, Italien, Sowjetunion 1982/83
Regie: Andrej Tarkowskij - Buch: Andrej Tarkowskij, Tonino
Guerra. - Kamera: Giuseppe Lanci. - Kameraführung: Giuseppe de Biasi. -
Kamera-Assistenz: Giancarlo Battaglia, Luigi Cecchini. - Schnitt: Amedeo Salfa,
Erminia Marani. - Ton: Remo Ugolinelli. - Ton-Mischung: Fausto Ancillai. - Ton-Effekte:
Luciano Anzellotti, Massimo Anzellotti. - Musik: Claude Debussy, Giuseppe Verdi,
Richard Wagner, Ludwig van Beethoven. - Musikalische Beratung: Gino Peguri.
- Bauten: Andrea Grisanti. - Ausstattung: Mauro Passi. - Kostüme: Lina
Nerli Taviani. - Maske: Giulio Mastrantonio. - Regie-Assistenz: Norman Mozzato,
Larisa Tarkowskaja. - Spezialeffekte: Paolo Ricci.
Darsteller: Oleg Jankowskij (Andrej Gortschakow), Domiziana Giordano
(Eugenia), Erland Josephson (Domenico), Patrizia Terreno (Andrejs Frau), Laura de Marchi (Frau mit Aktentasche), Delia Boccardo
(Domenicos Frau), Milena Vukotic (Gemeindeangestellte), Alberto Canepa (Bauer).
- Produktion: RAI, Rete 2/Opera Film, Rom. - Produktionsleitung: Francesco Casati.
- Aufnahmeleitungl: Filippo Campus, Valentino Signoretti. – Drehzeit: November
1982 - März 1983. - Drehort: Bagno Vignoni, Rom. - Format: 35 mm, Farbe
(Technicolor), sw. -
Originallänge, Deutsche Länge: 130 min. - Urauführung: Mai 1983,
Filmfestspiele Cannes. – Deutsche
Erstaufführung: 26.6. 1983, Filmfest München. - Kinostart: 20.1. 1984.
- TV: 23.12. 1985 (ARD); 23.4. 1987 (BR III). - Verleih: Pandora (35 mm).
Widmung: Dedicato alla memoria di mia madre.
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