Matrix
Neo im Wunderland
Atemberaubende Bilder, moderne Mythen: MATRIX der Brüder Wachowski
"Folg' dem weißen Karnickel." - Mit diesem Befehl eines mysteriösen
Anrufers und dem Tattoo des Tierchens auf der Schulter einer Frau
beginnt für Thomas ein Alptraum: Agenten verfolgen ihn, sein Leben
verflüchtigt sich binnen Stunden, und er wird hinabgesogen in eine
zweite Welt, von der er zuvor nichts ahnte. Thomas stürzt in das
"rabbithole", doch wie einst Alice landet er weich in einem Wunderland,
das einerseits Träume wahr werden läßt und doch zugleich keinen Horror
ausläßt.
Zuvor beginnt MATRIX ganz anders: Man fühlt sich in einen alten Film
Noir-Thriller versetzt: Es ist Nacht. Polizisten, die mit ihren
anachronistischen Uniformen direkt aus den vierziger Jahren zu stammen
scheinen, stürmen ein Gebäude. Doch schon als ein paar Zivildetektive
hinterherkommen, ahnt man, daß etwas nicht stimmt. Und der nur
scheinbar konventionelle Beginn - eine Frau soll verhaftet werden,
setzt sich zur Wehr und versucht zu fliehen - entpuppt sich als
Maskerade. Denn wir befinden uns hier nicht in der Vergangenheit,
sondern in der Zukunft, genauer gesagt im Jahr X2CV. MATRIX ist ein
Science-Fiction-Film.
Das Wort, das dem Film den Titel gibt, ist vieldeutig. Nicht nur
Stammutter bedeutet "Matrix", Mutterboden und Eiweißhülle der
Chromosomen, sondern auch eine komplexe lineare Anordnung in der
Mathematik und eine Matrizenfolie zur Vervielfältigung von Botschaften.
So vieldeutig wie dieser Titel ist der ganze Film.
Denn MATRIX ereignet sich auf mehreren Ebenen. Oberflächlich
betrachtet ist es ein Action-Film, der in der Zukunft spielt. Im
Mittelpunkt steht Computerhacker Thomas, der in Kontakt mit einer
Untergrundgang gerät. Sehr bald erfährt er, was es mit der Welt, in der
er zu leben glaubt, tatsächlich auf sich hat: Sie ist bloßer Schein.
Die wahren Herrscher der Erde sind verselbständigte Maschinen. Die
Menschen dienen ihnen nur noch als versklavte "Batterien", die durch
eine künstlich erzeugte Welt - die der unsrigen zum Verwechseln ähnlich
sieht - bei Laune gehalten werden. Wenige Rebellen kämpfen für die
Befreiung der Menschheit. Als sich Thomas der Gruppe anschließt und dem
Kampf aufnimmt, beginnt für ihn erst der wahre Sturz ins Wunderland. Er
muß lernen, reale und scheinbare Welt zu unterscheiden und sich in
beiden perfekt zu bewegen. Er muß als freier Mensch, als "Neo" quasi
neu geboren werden.
MATRIX erzählt die archetypische Geschichte einer Selbstbefreiung und
Reise ins Unbekannte. Er erzählt ein Vater-Sohn-,
Erzieher-Schüler-Verhältnis in der Beziehung Neos zum Rebellen Morpheus
und ein freudianisches Dilemma, in dem es um Traum und Wirklichkeit,
Freiheit und Zwang, um Opfer und Wiedergeburt geht.
Die erstaunliche Qualität von "Matrix" aber liegt nicht primär in der
intelligenten, anspielungsreichen und dabei doch immer
ironisch-gelassenen Story. Sie besteht aus den atemberaubenden Bildern,
in die diese modernen Mythen gefaßt sind. Beeinflußt von Filmklassikern
ebenso wie von postmodernen Hongkong-Movies, mit Anleihen bei der
visuellen Sprache der Comic Strips, aber auch bei Zeichnungen der
schwarzen Romantik englischer "Gothic Tales" gelingt dem
Regie-Brüderpaar Andy und Larry Wachowski (bisher nur durch den
Indie-Thriller "Bound" bekannt) ein sensationelles Hollywood-Debüt.
"Matrix" ist klug, aufregend und poetisch - mehr kann man von einem
Film kaum verlangen.
Rüdiger Suchsland
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Zu diesem Film liegen im archiv
Matrix (The Matrix)
USA 1999 - 144 Minuten -
Regie: Andy Wachowski, Larry Wachowski
Kamera: Bill Pope
Drehbuch: Andy Wachowski, Larry Wachowski
Besetzung: Keanu Reeves, Laurence Fishburne, Carrie-Anne Moss, Hugo Weaving u.a.