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Leidenschaften

In der Arbeiterstadt Glasgow sucht Frietz (Frietz Mikesch), von Ängsten gepeinigt, den wahren Glauben. Nackt liegt er bäuchlings, von Kerzen matt erleuchtet, auf den Fliesen, vom jähen Orgelton zu Tode erschreckt. Der Himmel kommt nicht auf die Erde. Street Boys überfallen ihn. Er sucht in der Millionenstadt New York irdisches Glück. In einer Textilfabrik ausgebeutet, nutzt er die Abendstunden zu Kontakten. Er trifft Tony Carol (ex-Mr. World), Taylor Mead und Tally Brown. Er nimmt sie nicht als die Superstars wahr, die sie dem Zuschauer sind. Die Kontakte im Pornokino reduzieren sich auf das voyeurhafte Wahrnehmen von Gekeuche. Dem Alkohol verfallen, liegt er in der Gosse der Bowery. - Der Leidensweg führt ihn nach Kalkutta. Auch hier paßt er sich bis zur Unkenntlichkeit dem Bild einer Stadt an, das sich jeder gebildete Europäer längst gemacht hat. Als gelungenes Klischee eines Inder/Pakistani schleppt er sich auf der - übrigens erfolgreichen - Suche nach einem Krumen Brot durch Schutt und Müll. Gestärkt, fristet er in Tokio sein Leben als Straßenräuber. Im Hauptbahnhof lauert er den Opfern auf. Mit bloßer Brust, Lederjacke und Halsband gleicht er einem Neosamurai - inmitten der Geschäftsleute mit weißem Hemd und Schlips. Eine sadistische Ledergang schlägt ihn ans Kreuz. Den Kopf rücklings nach unten, windet er sich unter den Schlägen der Folterpeitsche. Masochistisch-wollüstig scheint ihm die Sonne durch die Beine - in die Kamera. - In Singapur kommt er durch Prostitution zu Geld: als Zuhälter von Transvestiten: »Ich will Macht, ihr blöden Tunten, ich bin der Chef In einer Rikscha genießt er den Luxus von Hongkong. Zum Jetset gehörend, läßt er sich im Luxuspalast auf Hawaii von barfüßigen Mädchen zu ortsüblichen Klängen zur Cocktailstunde unterhalten. Doch füllt ihn dies Leben nicht aus. Durch Mexiko City und Acapulco eilend, verstreut er seinen Reichtum, um frei zu sein für die Leidenschaften asiatischer Mystik. Unter dem (indischen) Hakenkreuz: »Mein Gott, brenne, entflamme mich, läutere mich bis zur vollkommenen Vernichtung meiner selbst Nackt die Höhenlinien balinesischer Terrassenkulturen abschreitend, wird er zu den Klängen chinesischer und europäischer Unterhaltungsmusik eins mit Wasser und Wolken, die ihn in zauberhaften Aquarelltönen betören. Doch entflieht er der Exotik. In der innsbrucker Bergwelt kehrt er »zum Einfachen und Naheliegenden« zurück. Die Gestalt eines Luis Trenker annehmend, zieht er in Schnee und Eis an der Pfeife und »bereitet sich in der gesegneten Zeit des Winters auf das Frühjahr vor«. Den Sinn des Lebens hat er gefunden. Doch »des werden Worte nicht mächtig sein«.

 

LEIDENSCHAFTEN ist Praunheims schönster Film, eine Passion mit umgekehrtem Vorzeichen. Die auf attraktive Weise ins Klischee getriebenen Lebensstationen führen den Helden Frietz vom tiefsten Leid rund um die Welt empor in die gesunde Höhenluft der Alpen, in denen der Irrende und Suchende die ersehnte geistige und moralische Festung findet. Die Leidenschaften führen vom fall zum rise. Frietz ist europäischer Hippie, der die Kunst der Anpassung beherrscht und auf seiner Dauerflucht um die Welt sich der Anpassung gleichzeitig entzieht. Was in den zwölf Drehorten des Films inszeniert ist, ist das exzessive Klischee, das sich die Heimat von der Welt draußen gemacht hat: Kalkutta ist arm, Hongkong reich, Tokio brutal und Hawaii schön. Der Film hätte auch in einem Studio gedreht werden können, doch dann wäre die Perfidie nicht herausgekommen, die Städte der Welt, ihre Armut und Anmut zu benutzen: auszubeuten fürs hauseigene Zerrbild (und Praunheim hätte die Weltreise nicht machen können, über die er 1972 in der Zeitschrift Filmkritik'' dreist-naiv berichtet hat). Verraten wird also nicht nur die Welt, sondern auch das Bild, das wir uns von ihr gemacht haben. Diese Verräterei, ihrerseits kostümiert als Bildungsroman abendländischer Tradition, hat jedoch die Attraktion einer originellen Travestieshow. Die verantwortungslosen Verlockungen der LEIDENSCHAFTEN erwecken durchaus die beabsichtigte Verunsicherung und Bereitschaft, sich abseits der gewohnten Klischees auf etwas einzulassen, das freilich nicht definiert wird. Der Blut- & Boden-Bauer ob Innsbruck kann das Ziel nicht gewesen sein.

 

Für die LEIDENSCHAFTEN reiste Praunheim mit Frietz Mikesch, dem dämonischen Maler aus Österreich, und Elfi Mikesch (Oh Muvie) um die Welt. Reisekosten: zwei Drittel des 60 000 Mark-Etats des ZDF. Die drei Reisenden führten ihre eigene Welt mit sich, deren Innerstes bereits 1967 mit dem Buch Die Leidenschaften der Rosa von Praunheim veröffentlicht war. Oh Muvie war im selben Jahr von Praunheim im Fotoroman Oh Muvie porträtiert worden. Im LEIDENSCHAFTEN-Film war sie für Maske und Kostüm verantwortlich und für die zweite Kamera. Gedreht wurde mit zwei Super-8-Kameras mit automatischer Belichtung, Marke Canon. Das Material wurde auf 16 mm aufgeblasen und gewann dadurch die schöne Aquarell-Stimmung. Sorgfältig achtete der Regisseur darauf, die exotischen Klischees nicht durch dokumentarische Aufnahmen zu stören. In Kalkutta fliegt das Team - vor Ausbruch des indisch-pakistanischen Krieges - mit dem letzten Flugzeug ein. Während der Aufnahmen werden sie der Spionage bezichtigt und entfliehen.

 

Nichts davon stört die Kalkuttasequenz, die, statt die überall ins Auge springende Armut zu dokumentieren, deren europäisches Klischee inszeniert. Flotte Klänge unterstreichen das Spiel: chinesische Schlager (ausgewogen das Verhältnis zwischen Rot- und Nationalchina), thailändische Militärmusik und polnische Chansons. Sie unterstreichen das Spiel so sehr, daß sie es ins Exzessiv-Groteske und Geschmacklose übersteigern. Da dies dem Delektieren keinen Abbruch tut, bringen die LEIDENSCHAFTEN den Zuschauer um den abendländischen Geschmack, welcher womöglich auch nur Klischee ist. Wie der Bericht der South China Morning Post über die zehn Tage Dreharbeit in Hongkong. Darin wird der 29jährige Regisseur im Klatschtantenstil beschrieben: »Er sieht eher konventionell aus, mit sehr unauffälliger Kleidung und Frisur. Er ist groß und schön mit angenehm gesunder Gesichtsfarbe. Die hat er zweifellos von den Außenaufnahmen. Die beiden anderen Teamangehörigen, der eine Schauspieler, die andere Kameraassistentin, sehen dagegen äußerst ungepflegt aus Dieser Bericht ist genial. Er trifft den Stil, mit dem Praunheim die Hongkongsequenz gedreht hat, denn Hongkong ist in den LEIDENSCHAFTEN groß und schön, wenn auch die eine und andere Straße ungepflegt aussieht.

 

Das ZDF zensierte den Film für die Fernsehsendung (am 9. Mai 1972) um zwei sogenannte Pornoszenen. In den Kinoaufführungen, die im Mai 1972 mit der Hamburger Filmschau begannen, lief der Film ungekürzt.

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags

 

 

LEIDENSCHAFTEN

BRD 1971/72

Regie, Buch, Schnitt: Rosa von Praunheim. - Kamera, Ton: Rosa von Praunheim, Elfi Mikesch. - Musik: Chinesische und thailändische Schlager, thailändische Militärmusik, Auszüge aus der rotchinesischen Oper »The White Haired Girl«, »Sucha Landscape« (polnisch?), »Choral Nr. 2 für Orgel« von Cesar Franck, u. a. - Kostüm, Maske: Elfi Mikesch. - Darsteller: Frietz Mikesch, Tony Carol (»Mr. World«), Taylor Mead, Tally Brown, Diana, Yotuta Nagarakawa, Mino Kuruta, Roberto Queen of Sheba, Florence Sun, Janie To Tsang Zung Chang, Carmen Parecmita, Noini Git Git, Jonny Surabaja. - Produktion: Rosa von Praunheim im Auftrag des ZDF. – Redaktion: Eckart Stein. - Drehzeit: September-Dezember 1971. - Drehorte: Glasgow, New York, Kalkutta, Tokio, Singapur, Hongkong, Hawaii, Mexico City, Acapulco, Bali, Innsbruck. - Produktions-Kosten: 60 000 DM. - Format: Super 8, auf 16 mm aufgeblasen, Farbe (Kodak). – Original-Länge: 73 min. - Kinoerstaufführung: 31.5. 1972, Hamburger Filmschau; 26.6. 1972, Internationales Forum des jungen Films, Berlin. - TV: 9.5. 1972 (ZDF). - Verleih: offen

 

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