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Kurt
Gerrons Karussell
„Karussell", so nannte Kurt Gerron sein Kabarett
im KZ Theresienstadt. Ende Oktober 1944 stand er in Auschwitz auf der Rampe.
„Ich kann nicht arbeiten", sagte er. Er sprach sich damit selbst sein Todesurteil,
erinnert sich eine Zeitzeugin im Film. „Links": das war die Selektion für
die Gaskammer. Die Überlebenden sitzen heute in Ilona Zioks Dokumentarinszenierung
wieder in einem Kabarett; auf den kleinen Tischchen brennen Kerzen; auf der
Kleinkunstbühne singt Max Raabe den Schlager nach, der Kurt Gerron in den
zwanziger Jahren berühmt gemacht hat: „Ich bin das Nachtgespenst".
Eine wohlartikulierte Hommage. Der Sänger ist jung und voller Hoffnung;
die Zuschauer sind im Alter von Oma und Opa; die Kamera zeigt uns, daß
sie gerührt sind. Sich erinnern ist ein Prozeß, der Bilder braucht
und Töne, Offenheit. Es wäre zu wenig, sich auf die Endgültigkeit
des Worts zu verlassen. So öffnet sich der Film für eine Veranstaltung,
in der Generationen zueinander kommen. Ben Becker tritt auf und Bente Kahan.
Ute Lemper pfeift die Ballade von Mackie Messer; Kurt Gerron war 1928 mit der
Rolle des Tiger Brown im Theater am Schifferbauerdamm berühmt geworden:
die Premiere der „Dreigroschenoper", inszeniert von Erich Engel.
Ilona
Zioks Film setzt uns keine Ergebnisse vor, auch keinen Lebenslauf. Das Leben
Kurt Gerrons erschließt sich, wir erleben es neu, für uns. Zeitzeugen
berichten, Kurt Gerron erscheint auf einem Filmschnipsel im Blauen
Engel
als Zauberkünstler – neben Marlene Dietrich; Fotos oder kurze Sequenzen
aus den vielen Filmen und Revuen; dazwischen Wochenschaumaterial, das die SA
beim Einsatz zeigt, nächtliche Fackelzüge. Unterbrochen wird das historische
Schwarzweiß und seine furchterregende Aktivität von bunten statischen
Einstellungen, die die Lager von Westerbork und Theresienstadt leer zeigen,
in Ordnung, Museum inzwischen. Was heute gepflegt wird, ist am unerträglichsten.
Statt Grabpflege ist ein bunter Abend angesagt, um den Star Kurt Gerron zu ehren,
zum Schluß werden wir es noch einmal hören, das „Nachtgespenst",
gesungen von Kurt Gerron.
Es
ist Ilona Ziok hoch anzurechnen, daß sie die Ambivalenzen nicht ausgetrieben
hat, die sich einstellen, wenn Kleinkunst im KZ veranstaltet wird, und wenn
wir uns über jemanden amüsieren, der vergast worden ist. „Nach dem
Tode gibt's ein Wiedersehen", versprach uns Gerron gleich im ersten Lied,
das wir in diesem Lieder-Film hören. Er singt es unbeschwert, ein wenig
frivol; der Filmzuschauer hat gemischte Gefühle, der Film kommt nahe, sehr
nahe. Ist es frivol, wenn man einen ermordeten Unterhaltungskünstler ehrt,
indem man ergriffen und unterhalten ist, beides zur selben Zeit? Niemand schrieb
uns vor, welche Haltung wir einnehmen sollen. Der Regisseurin ist es gelungen,
die Sterilität einer Gedenkveranstaltung durch eine lebendige Performance
abzulösen, die auch den Zuschauer ins Spiel bringt.
Und
in der Tat, man möchte Unvernünftiges tun, aufspringen, sich einmischen.
Kurt Gerron, Jude, flüchtet 1933 nach Paris, dann nach Amsterdam. Er inszeniert.
Er kommt ins Lager Westerbork. Er inszeniert. Er wird 1943 nach Theresienstadt
deportiert. Er inszeniert auch dort. Er führt Regie für den Nazipropagandafilm
Theresienstadt.
Aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, bekannt geworden unter dem Titel Der
Führer schenkt den Juden eine Stadt.
Sein Drehbuch, von Goebbels genehmigt, zählt 1148 Einstellungen. Er dreht
sie alle. Munteres Lagerleben im August und September 1944. Wir sehen, wie schön
es dort war. Am 6. April 1945 hatte sich eine Delegation des Internationalen
Roten Kreuzes in Theresienstadt den Dreiviertelstundenfilm angeguckt. Warum
hatte Gerron, der arbeitswütige, sich dazu hergegeben? Die Zeitzeugen äußern
sich in Zioks Film, ihre Antworten sind ambivalent, es bleiben Fragen. „Er hat
den Film sehr gern gemacht, er wollte wieder kreativ sein", hören
wir, „er muß gedacht haben, ich bin wieder wer." Und: „Er hat keine
Wahl gehabt." Als er auf der Rampe in Auschwitz die Wahl hatte, sprach
er sich das Todesurteil.
Die
Persönlichkeit Gerrons hinter den vielen Bühnenpersönlichkeiten
seiner Karriere, wird nicht sichtbar. „Er verdrängte die Lage", mutmaßt
ein Überlebender. Dann wäre es Gerron geglückt, ein bißchen
wahres Leben im falschen Karussell zu finden, Hollywood in Theresienstadt vom
16. August bis 11. September 1944. „Ich bin das Nachtgespenst", das ist
die Rolle, mit der er lebendig bleibt.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
kurt
gerrons karussell
BRD/Niederlande/Tschechische
Republik 1999. R und B: Ilona Ziok. P: Ilona Ziok, Thomas Mertens. K: Jacek
Blawut, Heiko Merten, Aicke Fricke, Antonin Danhil. Sch: Christina Graff, Silke
Regele, Erik Mischijew. M: Norman Meiritz, Amadeus Reineck. T: Heiko Merten,
Frank Desmoulin. Pg: TV-Ventures/Nederlands Filmmuseum Amsterdam/Arte/SFB. V:
Salzgeber. L: 70 Min. DEA: Berlinale 1999. St: 13. 5. 1999. Mit: Ute Lemper,
Bente Kahan, Ursula Ofner, Ben Becker, Max Raabe, Schall & Rauch.
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