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Der
Kick
Destillate der Stagnation
In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird
im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet, nachdem er stundenlang
mit Faustschlägen traktiert wurde. Die drei jugendlichen Täter sind
seine Bekannten, ein konkretes Tatmotiv ist nicht auffindbar.
In einfühlsamer, langwieriger
Kleinarbeit machten sich der Regisseur Andres Veiel („Black
Box BRD“) und die
Dramaturgin Gesine Schmidt in Potzlow auf die Suche nach möglichen Hintergründen.
Gespräche mit den Tätern, ihren Eltern und Bekannten, mit der Mutter
des Opfers, Verhörprotokolle und Prozessakten komprimierten sie zum Theaterstück
„Der Kick“, eine Inszenierung für zwei Personen, die allein bis zu 20 verschiedene
Sprecher verkörperten. Veiels nun nachgelieferte Filmadaption des eigenen,
erfolgreichen Stücks bewahrt beinahe vollständig den spröden
Bühnencharakter und ist doch zugleich echtes Kino geworden.
Das Setting: Eine matt beleuchtete,
alte Lagerhalle, darin ein manövrierfähiger Blechcontainer. Auf dieser
kargen Bühne ein Lehrstück in Sachen Schauspiel und Empathie. Mit
feinsten Nuancen der Tonlage, des Dialekts, der Körperhaltung, des Blickes
eignen sich die Schauspieler Susanne Marie Wrage und Markus Lerch die Rollen
der Befragten an, fühlen sie sich in sie ein, scheinen sich geradezu in
sie zu verwandeln. So nehmen sie dem Zuschauer einen Teil seiner Arbeit ab.
Der minimalistische Inszenierungsstil distanziert ihn zwar von der Profanität
des Authentischen - der Einblick auf den realen Ort und die realen Personen
bleibt ihm völlig vorenthalten - die textualen Destillate des Wesentlichen
(Veiel nennt das „Fiktionalisierung“) aber fördern die Konzentration auf
divergierende Blickwinkel, Erklärungsansätze, besonders aber auf das
Dahinter, auf die Psyche der Dorfbewohner, auf Menschen, die versuchen, sich
an Stagnation, an einen ökonomischen Dauernotstand, an eine Entwertung
ihrer selbst zu gewöhnen.
Die verschiedenen Stimmen summieren
sich zu einem deprimierenden Stimmungsbild, zur Bestandsaufnahme eines schrumpfenden
Dorfes, das mit seinem hohen Arbeitslosenanteil, mit seiner Perspektivlosigkeit,
mit Alkoholismus, Fremdenfeindlichkeit und seiner Neigung zum Rechtsextremismus
vielen Orten nicht mehr nur in Ostdeutschland ähnelt. Aber „Der Kick“ geht
Pauschalisierungen aus dem Weg und er arbeitet an gegen die Dämonisierung
der Täter. „Wir holen sie aus dem Monsterkäfig heraus und geben ihnen
eine Biografie. Das ist die eigentliche Provokation“ sagt Veiel.
Es ist tatsächlich selten ein
Film der Befindlichkeit unserer Zeit, unseres Landes so nahe gekommen wie „Der
Kick“ auf seiner Suche nach weiterführenden Antworten. Er stellt die Frage
nach dem Wert des Menschen neu, indem er jenen eine Stimme gibt, die buchstäblich,
d.h. im wirtschaftlichen Sinne, „nicht gefragt“ sind. „Es hätte genauso
einen von ihnen treffen können“, sagt irgendwann die Mutter zweier der
Täter. Ein beinahe beiläufiger Satz, aus dem die unheimliche, beklemmende
Wahrheit klingt, die der Film sukzessive freilegt. Der schockierende „Kick“
aus dem Film „American History X“, den Marcel nachahmte, als er ins Genick des
Marinus sprang, um ihn „hinzurichten“, ist am Ende dieser konzentrierten, intensiven
und fesselnden Anamnese nur ein auffälligeres Symptom eines expandierenden
sozialen, ökonomischen und politischen Versagens.
Andreas Thomas
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Applaus (München)
Der
Kick
Deutschland 2006 - Regie: Andres Veiel - Darsteller: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch - Länge: 82 min. - Start: 21.9.2006
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