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Julia
Happy
hour
in LA.
Freitag. Trinken und abschleppen.
Julia (Tilda Swinton) greift nach jedem Sektglas. Sie läuft groß
auf. Voll aktives Partygirl. Die Handkamera hat Mühe, ihr im Gewimmel zu
folgen. Sie ist die Größte in der Stunde des Overactings, und das
ist nicht too much, sondern die Lage der Fakten. Zur Situation
gehört, dass es eher dunkel ist, und zwar ziemlich lila. Am nächsten
Morgen ist es arg sonnig, weiß und überbelichtet. Julia wird vom
Lover aus dem Taxi geworfen. Sie liegt auf der Straße. Nachmittags eine
neue Tatsache. Das Gelabere bei den AA. Der
Termin überschneidet sich mit der nächsten happy hour.
Julia reagiert auf das, was ihr im Film 130 Minuten lang passieren wird. Und,
versprochen, es geschieht Unabsehbares ohne Ende.
Da nichts relativiert wird, stellt man
sich den Film besser als eine endlose Kette von Hauptsätzen vor. Und die
erklären nichts. Sie bleiben sachlich. Gleich in den ersten Sequenzen wird
klar, dass wir nichts über das Warum und Wie-kam-es-dazu erfahren werden.
Vergangenheit gibt es nicht. Die alkoholkranke Powerfrau hält sich fit
für das, was kommt. Zum Beispiel ein Kind zu entführen und dem Arschloch
von Großvater Millionen abzupressen. Schon hält sie dem frechen Neunjährigen
eine Pistole an den Kopf.
Klebeband auf den Mund. Rein in den Gepäckraum
und ab Richtung Mexiko. Wir sind jetzt in einem anderen Film. Die Trinkersequenzen
vom Anfang können wir vergessen. Eine Exposition war das nicht gewesen.
Wohl aber ein Verstoß gegen die Regeln eines Genres (Psychodrama) und
eines Drehbuchs sowieso (wieso, weshalb, warum). Und ein Thriller wird es auch
nicht. Wird die Entführerin gefasst? Darf eine Frau den kleinen Jungen
zur Brust nehmen, nackt im Bett? Darf sie, verfolgt von der Bundespolizei, mit
dem Auto die Grenzmauer durchbrechen, und sich in Mexiko, dem Land der Freiheit,
sicher fühlen? Darf die das alles?
Der Film hat uns abgewöhnt, überhaupt
diese Fragen zu stellen. Es passiert, was passiert. Die Moral von der Geschicht,
sie gibt es nicht. Und nun das Größte. Wenn der Film so funktioniert,
wie er funktioniert, dann ist der Zuschauer derjenige, der sich im Modus der
Amoral wiederfindet. Denn, so behaupte ich, die Identifizierung mit Tilda Swinton
lässt nicht nach. Ganz im Gegenteil. Sie ist die Größte. Ganz
unabhängig davon, dass sie grade einen Oscar bekommen hat (für „Michael
Clayton“).
„Julia“ ist ein Film der radikalen Beiläufigkeit.
Was passiert, wird gekontert. Dazu braucht es keinen Plan. Der würde nur
den Körper daran hindern, den Instinkten zu gehorchen. Erick Zonca (Buch
und Regie) hat deswegen dem gewohnten Linearen abgesagt. Wenn der kleine Junge
im letzten Drittel des Films die Entführerin als Mutter nimmt, wird damit
weder bei ihm noch bei ihr etwas gewandelt werden. Sperr dich nicht, lass es
einfach geschehen. Die Fahrt im Auto geht schon mal im Kreis, geht auch zurück.
Die Strecke ist so wahllos wie die Mittel, die Julia wählt. Im Auto oder
zu Fuß durch die Salzwüste – das ist kein Highway-Gradeaus. Der Film
zitiert die gelbe Mittellinie aus den Filmen von David Lynch, nachts. Aber jetzt
ist es tags, wieder leicht überbelichtet, und „Julia“ ist aus der Spur.
Zum Schluss steht Tilda Swinton auf dem Highway, umbrandet vom Verkehr. Kein
Happyend, aber unhappy ist sie auch nicht. Wenn jemand erlöst
wird, dann ist es der Zuschauer von den Restriktionen des Genreterrors. Die
Swinton bleibt ganz nah. Nichts ist erledigt. Können müsste man das,
dieses aus dem Bauch heraus. Körper sein. Ihm trauen. Deswegen noch ein
Hauptsatz. Ich bin Fan von Tilda Swinton.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in der taz
Zu diesem Film gibt’s im
archiv der
filmzentrale mehrere Texte
Julia
Frankreich 2007 - Regie: Erick Zonca - Darsteller: Tilda Swinton, Saul Rubinek, Aidan Gould, Kate del Castillo, Jude Cicolella, Bruno Bichir, Horacio García Rojas, Gastòn Peterson, Mauricio Moreno, John Belluci - FSK: ab 16 - Länge: 138 min. - Start: 19.6.2008
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