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Jeder
für sich und Gott gegen alle - Kaspar Hauser
Am 26. Mai 1828 erscheint auf dem Nürnberger Unschlittplatz
ein junger Mann, der kaum gehen und nicht sprechen kann. Mit sich führt
er einen anonymen Brief, der ihn als Kaspar Hauser ausweist. Wie sich herausstellt,
war diese Person Zeit ihres bisherigen Lebens in einem Keller gefangen gehalten
worden, ohne einen Blick auf die Welt, geschweige denn auf einen Menschen geworfen
zu haben. Die Nahrung war ihm während seiner Schlafphasen ins Verließ
geschoben worden. Was es mit dieser einzigartigen Gefangenschaft auf sich hatte,
konnte seinerzeit nicht geklärt werden. Die Ermordung Hausers einige Jahre
nach seinem Auftauchen goss zudem Öl ins Feuer der Spekulationen und hielt
Kriminologen, Philosophen und andere Forscher bis in die heutige Zeit in Lohn
und Brot. Die populärste Theorie, nach der Hauser als strategisch unangenehmer Erbe einer Nebenlinie des badischen
Adelshauses in Frage kommt, wurde mittels einer Genanalyse im Auftrag des Spiegels
1996 vermeintlich ein für allemal vom Tisch gefegt. Im Jahr 2002 wiederum
wurde dieses Ergebnis im Rahmen einer Forschung im Auftrag des Fernsehsenders
arte widerlegt. Bis heute ist der Fall Kaspar Hauser und seine vielen Implikationen
Gegenstand zahlreicher Debatten und hat von seiner Faszinationskraft nichts
eingebüßt.
In seiner mitunter sehr traumähnlichen und bildstarken
Verfilmung der Begebenheit lässt Werner Herzog den kriminologischen Aspekt
des Stoffes gänzlich beiseite und konzentriert sich voll auf die philosophischen
Qualitäten. Wer dieser Mensch war, warum er in Gefangenschaft leben und
nach wenigen Jahren in Freiheit sterben musste, ist für seinen Film nicht
von Interesse. Eher schon geht es Herzog um die Nachzeichnung jenes Vorganges,
wie ein solcher Mensch sich von der Welt einen Begriff macht, wie er diese -
über die Eindrücke, über die erlangte Sprache und somit also
auch über das Gespräch - in sich konstruiert und mit Sinn füllt.
In seiner wohl bekanntesten Szene stellt der Film Hauser dann auch einem Professor
für Logik - von Alfred Edel herrlich verkörpert - gegenüber,
der den Findling mit dem Problem der beiden Wächter konfrontiert, von denen
der eine stets lügt, der andere die Wahrheit spricht und die anhand einer
einzigen Frage voneinander eindeutig zu unterscheiden wären. Die komplexe
Lösung des Professors über den Umweg einer Dopplung der Frage in sich
selbst befriedigt Hauser kaum: "Ich würde fragen: "Bist Du ein
Laubfrosch?" Sagt er "Ja", ist er der Lügner.", stellt
er so trocken wie schlau fest und bringt damit seine Entfremdung voll auf den
Punkt. Ein Glücksfall für diesen beeindruckenden Klassiker des Neuen
Deutschen Films ist dabei auch die Besetzung des Kaspar Hausers mit dem Berliner
Straßenmusikanten und selbst jahrelang in Heimen weggesperrten Bruno S.,
dessen unbekümmerte wie engagierte Darstellung dem Kaspar Hauser eine atemberaubende
Tiefe verleiht.
Auch in ihrer ersten Veröffentlichung der Herzog-Kollektion
ohne Kinski in der Darstellerriege besinnt sich Kinowelt auf die Tugenden der
Reihe und beschert uns eine von der Covergestaltung bis zum Zusatzmaterial rundum
überzeugende Edition. Bild- und Tonqualität sind am Alter des Films
gemessen sehr gut und ermöglichen ein ungetrübtes Filmerlebnis. Als
Zusatzfilm wurde diesmal eine filmische Biografie Werner Herzogs beigelegt,
die interessanterweise in dessen Filmografie bislang nicht auftaucht, offensichtlich
aber aus den frühen 80ern stammt: Wie nicht anders zu erwarten, ist dieses
Dokument vom für Herzog typischen Narzissmus und seinem mythenschweren
Blick auf die (Um-)Welt geprägt, was man nur lieben oder hassen kann. Nicht
zuletzt ein kurzer Auftritt von Lotte Eisner und einige Überlegungen Herzogs
zum Film im Allgemeinen, zum Neuen Deutschen im Besonderen machen aus diesem
Artefakt ein wichtiges Dokument seiner Zeit. Einen kleinen Einblick in Herzogs
Verständnis vom Filmemachen gewährt schließlich ein Auszug aus
dem Drehbuch zum Hauser-Film, der nicht etwa Dialoge vorscheibt, sondern sich
ganz in Stimmungsbeschreibungen und postulierten Idealvorstellungen erschöpft.
Auch der Audiokommentar - wieder von Laurens Straub und Werner Herzog exklusiv
eingesprochen - ist wieder sehr informativ ausgefallen, wenn Herzog tief in
der Anekdotenkiste gräbt. Hier stellt sich für den regelmäßigen
Verfolger der Reihe ein schöner "Alte Bekannte"-Effekt ein und
man ist beinahe schon gewillt, die Sichtung des Films nach Einlegen der DVD
sofort mit dem Audiokommentar zu begehen. Trailer zu diesem wie anderen Filmen
der Herzog-Reihe, eine bildschirmfüllende Fotogalerie mit Aufnahmen von
den Dreharbeiten und die obligatorische Herzog-Biografie beschließen schließlich
eine einmal mehr empfehlenswerte Veröffentlichung der Reihe.
Thomas Groh
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Jeder
für sich und Gott gegen alle - Kaspar Hauser (D 1974)
Anbieter:
Kinowelt Arthaus
VÖ:
24.02.2004
Regie:
Werner Herzog
Darsteller:
Bruno S., Brigitte Mira, Walter Ladengast, Herbert Achternbusch, Enno Patalas,
Alfred Edel, u.a.
DVD:
Technische Details:
Bildformat:
1,78:1 Letterbox
Sprachen:
Deutsch (Mono Dolby Digital)
Untertitel:
-
Regionalcode:
2 / PAL
Zusatzmaterial:
Trailer,
Fotogalerie, Biografie von Werner Herzog, Werner Herzog - Filmemacher (Portrait),
Auszüge aus dem Drehbuch, Audiokommentar von Werner Herzog und Laurens
Straub
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