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It’s All About Love
Lauter Bauern im Bedeutungsschach
Thomas Vinterbergs Film „It’s All About Love“ ist ein Befreiungsschlag
gegen die Regeln der dänischen Filmbewegung Dogma-95
Keiner kommt hier unbeschadet raus. Flüchtig, aufgefangen von der
unsteten, verunsicherten Videokamera, werden Blicke an der
Frühstückstafel ausgetauscht; im Murmeln der versammelten
Geburtstagsgesellschaft verschwindet der Jubilar, nachdem er den Kindern
trotz allem seine Liebe versichert hat. Seine Schuld des sexuellen
Missbrauchs liegt nun offen dar und wirkt doch selbst in der geflüsterten
Sanktionierung – „Ich glaube, du musst jetzt gehen, damit wir essen
können“ – ähnlich gedeckelt und unerträglich verschwiegen wie zu Anfang
des Films. Thomas Vinterbergs Das Fest ließ uns zurück als Teil der
Tafel, als Familienmitglied, das alle Spannungen wieder mit sich allein
ausmachen muss.
Der Erfolg dieses ersten Films der Dogma-95-Bewegung, gefolgt von Lars
von Triers Idioten und Soren Kragh-Jacobsens Mifune – Dogma 3, war
untrennbar mit jenem Manifest verbunden, das als „filmisches
Keuschheitsgelübte“ berühmt werden sollte. Neben der radikalen Absage an
Kamerastative oder „optische Tricks“, „künstliches Licht“,
„oberflächliche Action“ sowie „zeitliche und geografische Verfremdungen“ schrieb das Dogma eine
weitere Regel vor: „Der Regisseur darf in Titeln und im Abspann nicht
genannt werden.“ Der Effekt dieses offensiven Understatements lag jedoch
gerade darin, dass es ihre Vertreter umso schneller zu europäischen
Regie-Stars machte.
Entsprechend groß sind die Erwartungen an „den neuen Thomas Vinterberg“.
Und der beginnt mit einem Fanal: Zu unterlegter Musik durchpflügt ein
Flugzeug schwer den Himmel des Sommers 2021, während sich uns aus dem Off
Joaquin Phoenix als John vorstellt, um „die Geschichte der letzten sieben
Tage meines Lebens“ zu erzählen. Bedeutung schwebt ein mit dieser Szene,
die schon im ersten Augenblick mit so ziemlich allen Dogma-Regeln bricht.
Noch bevor wir erfahren, dass John auf dem Weg nach New York ist, um dort
seine Ehe mit der weltberühmten Eiskunstläuferin Elena (Claire Danes) zu
beenden, ist die Geschichte beider mit Tod und einem mysteriösen Leiden
der Welt verbunden. Allerorten brechen in diesen Tagen Menschen leblos
zusammen, irgendetwas „bricht ihr Herz“. Über eine Leiche am Fuße einer
Rolltreppe hinwegzusteigen ist Johns erste Prüfung nach seiner Ankunft.
So, wie der Kommentar den Auftakt erklärt, wird auch jedes weitere Bild
in It’s All About Love flächendeckend und sinnstiftend betreut.
Klimakatastrophen werden sich mehren, Schnee fällt im Juli. Die Welt
erfriert, Herzen bleiben stehen, und das Paar kämpft um seine Liebe,
während Johns Bruder Marciello (Sean Penn) in seinem „Bericht über den
Zustand der Welt“ die visuelle Fracht noch akustisch beschwert: „Die
Leute sterben auf der Straße, weil sie sich vermissen – die Bedrohung der
Welt, du und Elena, das ist alles miteinander verbunden.“ Im Hintergrund,
sicher ist sicher, singt ein Chor „Amore, amore“.
Gerade weil hier tatsächlich alles miteinander verzahnt ist und jedes
Einzelteil über sich hinaus verweist, kämpft It’s All About Love mit
seiner eigenen Fülle. Keine Farbkomposition im schwerblütigen Dekor des
Peter-Greenaway-Produktionsdesigners Ben van Os, die nicht sofort alle
Aufmerksamkeit für sich will. „Perfekt!“, schreit jede Einstellung der in
Schönheit erstarrten Kamera. Inmitten dieser sich gegenseitig
bedrängenden Zeichen, die sich in Cinemascope auch noch auf die Themen
„Familie“ und „Genmanipulation“ ausweiten, bleibt kein Platz, noch selbst irgendetwas zu entdecken.
Geschlossene Gesellschaft – wir müssen draußen bleiben.
Damit beschreibt It’s All About Love das genaue Gegenteil jener
großartigen Sogwirkung, die vom Fest ausgegangen war. Die unterdrückte
Wahrheit, mit der wir dort in Sippenhaft genommen wurden, entäußert sich
hier zugunsten eines immer schon selbsterklärenden Symbolismus. So
radikal werden wir von Teilnehmern zu Außenstehenden, dass It’s All About
Love darüber nicht nur seine Bilder und Töne, sondern sich selbst als
Referenten einer höheren (Autoren-)Idee anbietet. Kann dieser
größtmögliche Gegensatz zum Fest denn etwas anderes sein als der
Befreiungsschlag des Thomas Vinterberg von den Fesseln des Dogma-95?!
Wie auch immer man zu dieser Frage stehen mag: Die Macht, mit der sie
sich aufdrängt, fordert Opfer und verdammt die Charaktere dieses Films
auch noch nach ihrem letzten Bild zu Bauern im Bedeutungsschach. Nicht
einmal ihr melodramatischer Filmtod darf ihnen am Ende selbst gehören.
Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT 13/2003
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