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Elephant
Leben
und sterben ohne Neustart-Option
In seinem Spielfilm "Elephant"
über ein Highschool-Massaker zeigt Regisseur Gus Van Sant, dass in der
Pubertät Alltag und Metaphysik kaum zu trennen sind. Teenager denken ständig
an die Endlichkeit der Existenz. Zuweilen ist ihre Neugier auf den Tod aber
auch so groß, dass sie den Weg abkürzen
Sonniger Morgen in einem amerikanischen
Suburb. Endlos strecken und dehnen sich die Reihen der Eigenheime. John muss
darauf warten, dass sein besoffener Dad endlich mit dem arg lädierten Auto
nach Hause kommt. So kommt er zu spät zur Schule, muss dort im Foyer noch
schnell den Bruder anrufen, damit der sich ums Auto und den Besoffski kümmert.
Auch Elias hat vor der Schule einiges zu tun. Mit seiner Kamera durchkämmt
er die lichtdurchfluteten Wälder rund um den luxuriösen, sich ebenfalls
endlos dahinstreckenden Campus. Einem jungen Punk-Paar, das er fotografieren
will, stellt er sein Tun als "Random Projects" vor. Er fotografiert,
was ihm zufällig vor die Kamera kommt. Dies soll nicht die einzige Parallele
zwischen Bilderlogik und Killerlogik bleiben, die Gus Van Sant in "Elephant",
seinem Film über Schulmassaker, untergebracht hat.
Die Kamera folgt diesen und anderen
Einzelnen, Paaren und Cliquen. Die Kamera folgt - das ist hier keine lapidare
visuelle Technik, sondern meint einen ziemlich aufwändigen, ausgestellten
Akt. Es sind lange Wege durch endlose Korridore und um unerwartete Ecken. Dahinter
tun sich ebenso unerwartet lichtdurchflutete oder überraschend unterbelichtete
Räume, Hallen, Fluchten auf. Oder es sind Wege über den endlosen Campus,
der hier an ein Sportfeld grenzt und dort wieder an einen Wald oder einen Parkplatz.
Je nach Unterlage wird der Gang federnd oder rollt eher rockig. Die geduldige
Kamera macht das mit, unter ihren Schienen und Tretern entfalten sich subtile
Soundscapes, die die weitgehend ruhende, unglaublich weitläufige, immer
nur horizontale Schullandschaft in ein gestretchtes psychedelisches Universum
verwandeln. L'Année dernière à Littleton. Erst viel später,
als die beiden inzwischen hochgerüsteten Attentäter kurz vor dem Beginn
des Gemetzels noch einmal den Plan der Liegenschaften anschauen, die sie mit
Terror überziehen wollen, wandelt sich der Eindruck, und man ist überrascht,
wie übersichtlich diese Architektur ist, wenn man sie aus einer anderen
Perspektive anschaut.
Gus Van Sant zeigt, dass in Pubertät
und Adoleszenz nur eine Membran Alltag und Metaphysik trennt: Kontingenz, Tod,
Schicksal, Sexualität, Unendlichkeit. Im entscheidenden Moment schaut die
Kamera nach oben, wo ein Kondensstreifen eben diese Unendlichkeit etwa so unbeirrt
und überlegen durchmisst wie diese Jugendlichen die Frühstücksräume
der Transzendenz. Dazwischen immer der Sturz in die absolute Banalität.
Kurze Begrüßungen mit anderen Jugendlichen, Verabredungen, Aufarbeitungen
des Wochenendes, Teenagerprobleme. Aber Teenagerprobleme sind Teenagern, schon
wenn sie sie aussprechen, wahnsinnig peinlich, weil sie nämlich eigentlich
die ganze Zeit mit Gedanken zu Vergeblichkeit, Nichtigkeit und Endlichkeit der
Existenz beschäftigt sind. Banalität ist ihnen viel schrecklicher
als Erwachsenen.
Die mit Vornamen vorgestellten
Schüler schleppen ihre Schicksale und Soundspuren (Beethoven) durch die
Räume, doch der Tag beginnt mit jedem einzelnen noch mal neu. Spätere
wird er an einer Kreuzung der Korridore fortgesetzt, wo sich zwei begegnet sind,
die wir schon kennen, um nun aber einer anderen Person zu folgen. Man ahnt,
dass sie alle des Todes sind, aber die Bildstrategie des Films deutet an, dass
sie das alle die ganze Zeit schon gewusst haben. Jugendliche denken an nichts
anderes als den Tod. Zuweilen ist ihre Angst vor oder Neugier auf den Tod oder
das Leben zuvor so groß, dass sie den Weg abkürzen: Dabei helfen
Drogen, Mord, Selbstmord. Diesen Weg gehen zwei Jungs, deren Welt nun etwas
anders geschildert wird: Es ist nicht die psychedelische Öffentlichkeit
des Schulkomplexes, sondern das Jugendzimmer mit bürgerlicher Klavierstunde
und Spielkonsole. Mit Mutter, Ego-Shooter-Game und einem Bericht über Hitlers
Aufstieg im Fernsehen.
Van Sant hat nicht einfach Littleton
verfilmen wollen, sondern Handlungselemente aus verschiedenen Schulmassakern
zusammengeführt. Am Tage des Massakers von Littleton, einem 20. April,
könnte auf einem amerikanischen Public Channel tatsächlich eine Hitler-Doku
gelaufen sein. Aber die beiden Jungs sind keine kleinen Nazis. Der eine antwortet
dem anderen auf die Frage, ob man da heute noch Mitglied werden kann: "Ja,
wenn man bescheuert ist." Ebenso wenig wird die angedeutete schwule Beziehung
der beiden - wie in der US-amerikanischen Kritik behauptet - zum Motiv aufgewertet:
Sie küssen sich ja nur, weil sie wissen, dass sie sterben werden und noch
nie geküsst haben. Als sie sich das sagen, denkt man zwar an die stereotypen
Floskeln, mit denen Erwachsene Frühverstorbene betrauern, aber genau diese
Sätze gehen Teenagern natürlich auch durch den Kopf. Und während
sich die späteren Täter unter der Dusche küssen, tagt in der
Schule eine "Gay-Hetero-Coalition" und diskutiert unter der milden
Gesprächsleitung eines coolen afroamerikanischen Dozenten klassische Fragen
wie die, ob sich Homo- und Heterosexuelle auf der Straße an ihrem Äußeren
unterscheiden lassen. Ein paar Türen weiter werkeln die Mitglieder der
Foto-AG an ihren "Projekten" in der Dunkelkammer.
Der Tatort ist ein postrepressives
Idyll von einer Ganztagsschule. Mit vielfältiger und spezifischer Förderung
von Kreativität und individuellen Interessen, mit viel Platz und Licht.
Die Täter werden ausnutzen, wie leicht diese Räume zu überblicken
sind. Vor der Tat spielen sie kurz ein Shooter-Game, aber eines ganz ohne den
allgemein beliebten Naturalismus. Die zu erschießenden Figuren bewegen
sich in diesem Spiel in einer leeren geometrischen Landschaft, die an die Abstraktionen
in Gus Van Sants Filmästhetik erinnert. Die mit jeder Figur wieder neu
startende oder an bestimmten Fixpunkten beginnende Handlung erinnert an die
Neustart-Möglichkeit des Spiels.
Postrepressive Bildung muss sich
zurzeit gegen Kritik von zwei Seiten verteidigen. Die Konservativen finden,
dass ungeprügelte und uneingeschüchterte Kinder verwahrlosen und am
Ende womöglich ihre Klassenkameraden umnieten oder um Schutzgeld erpressen.
Die Linke findet, dass gerade die postrepressive Schule auf besonders perfide
Weise Subjekte konstruiere und antizipiere, die den kontrollgesellschaftlichen
Konkurrenzkampf selbstständiger Kleinunternehmer in eigener Sache von der
Pike auf lernen. In "Elephant" scheint Konkurrenz zwar kurz auf als
eine der Formen der Banalität und des Alltagsbösen, das federnde Schritte
und Blicke zum Himmel stört. Aber weniger als eine Funktion der Schule
und ihrer Architektur denn als eine der gesellschaftlichen Realität, die
eben noch jede Exterritorialität erreicht: Ein Mädchen muss einem
Freundinnentribunal zum Beispiel erklären, wie es seine Freizeit zwischen
Boyfriend und Clique gerecht aufzuteilen gedenkt. Aber auch Konkurrenz und Vergesellschaftung
werden zutiefst unordentlich ausgestreut. Sie erklären nichts. Das Leben
der Jugendlichen, so Van Sants Film, ist vor allem somnambul. Entsetzlich wird
es, wenn irgendjemand aufwacht oder über etwas Reales stolpert.
Obwohl die Vorbereitungen schon
recht früh ins Bild geraten, glaubt man treuherzig der Atmosphäre
des Films, dass einem die Morde erspart bleiben werden. Doch diese Gnade wird
uns nicht gewährt. Die Morde treffen fast alle, die wir kennen, und sie
treffen knapp und schnell. Keine Apotheose, keine Gnade, keine Metaphysik. All
das waren Eigenschaften des Lebens, auch die pubertäre Todesnähe war
nur im Leben zu haben. Das mit einem kurzen Klicken ausgeknipst wird - von zweien,
die mit dieser Todesnähe im Leben nicht umgehen konnten, niemanden zum
Küssen hatten, den eigenen Tod nicht abwarten konnten und deswegen den
Weg zum Tode für alle beschleunigen wollten. Womöglich in der irrigen
Hoffnung auf eine Neustart-Option.
"Space", weiß
B-Film-Theoretiker Manny Farber, " is the most dramatic stylistic entity."
- "Raum ist die dramatischste stilistische Einheit." Der suburbane
Raum als kosmische Unendlichkeit pubertärer Träume und als deren schmerzhafte
gleichförmige Begrenztheit, als ewige Provinz - das ist der Held dieses
Films. Diesen Raum muss man schon alleine deswegen erobern, weil das noch kein
Game geschafft hat. Eine von der dem Soundscape-Projekt des kanadischen Komponisten
R. Murray Schafer nahe stehenden Margaret Westerkamp mit krispen Ambientblöcken
gestaltete Soundspur verhilft diesem Space zu dreidimensionaler Gestalt. Es
ist der suburbane Raum in seiner besonders modernen, sich in Musterschulen noch
weiter streckenden und spannenden Form, der die Unerträglichkeit pubertärer
Todesangst auf den Punkt bringt: endlose Ewigkeit und zugleich engste Gleichförmigkeit,
simultanes Würgegefühl und Platzangst. Darauf schießt man nicht
nur, weil man das loswerden will, sondern auch, weil es komplett unverständlich
ist. Zuweilen aber auch, gerade wenn man nicht beteiligt ist und entspannt zusehen
kann, sehr schön.
Diedrich Diederichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der taz
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Elephant
USA 2003 - Regie: Gus van Sant - Darsteller: Alex Frost, Eric
Deulen, John Robinson, Elias McConnell, Jordan Taylor, Carrie Finklea, Nicole
George, Brittany Mountain, Alicia Miles, Kristen Hicks, Bennie Dixon, Nathan
Tyson - FSK: ab 12 - Länge: 81 min. - Start: 8.4.2004
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