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Elephant
Unendlich
lang scheinen die Gänge der High-School zu sein, minutenlang folgt die
Kamera den Schülern bei ihrem Weg durch die Korridore. Dass die Bilder
dabei enorm stilisiert sind, fällt kaum auf, so schnell geht man auf in
den Farben, der Bewegung der Kamera und den Stilmitteln, die sich Gus van Sant
zu Nutze macht: Ganz unerwartete Zeitlupen zum Beispiel, die unmerklich in den
Fluß der Bilder integriert sind - einige Momente vergehen langsamer, so
scheint es. Der Hund, der den Schüler begrüßt, die Sportler,
die auf dem Footballfeld im Hintergrund spielen - die Augenblicke gehen nahtlos
über von gewohnter Geschwindigkeit in eine Trägheit, die das Funktionieren
von Erinnerungen, das Zustandekommen von jenen kleinen Bildfetzen, die von Ereignissen
hängen bleiben, in ganz wunderbar fotografierten Bildern (Kamera: Harris
Savides) visualisiert. Überhaupt, der Umgang mit Zeit: es sind nicht nur
die kleinen eingeschobenen Zeitlupen, überall zeigen sich Verschiebungen
und Brüche in der Kohärenz der Filmstruktur: Wenn zu den Anfangscredits,
am Ende und am entscheidenden Wendepunkt des Films, in dem der Alltag zur Gewalt
wird, die Kamera in groteskem Winkel in den Himmel blickt und uns in Zeitraffer
den Lauf der Wolken oder den Einbruch der Nacht zeigt, so liegt auf der Tonspur
zeitlich ganz unverzerrter Schulhoflärm. Diese anfangs noch so unmerklichen
Unstimmigkeiten sind es, die den Inhalt von Elephant,
das Umschlagen einer gewohnten Situation in eine Katastrophe, auch in die Bilder
des Filmes trägt.
Van
Sant hat seine Erzählung gegliedert in die Personen des Geschehens: ihre
Namen überschreiben die Leinwand, danach folgt er ihrem Weg in die Schule,
an jenem Tag, an der zwei der Schüler zu drastischen Mitteln greifen werden,
um dem Alltag zu entkommen. Die Wege der Protagonisten kreuzen sich, in einigen
wenigen Augenblicken überschneiden sich die Sequenzen, man sieht die kurzen
Dialoge aus verschiedenen Perspektiven, und obwohl van Sant dabei für jede
Person einen Sprung zurück in der Zeit machen muss, nähert er sich
doch kontinuierlich jenem Augenblick, in dem eine der Schülerinnen hört,
wie direkt neben ihr eine Waffe geladen wird.
Hauptsächlich
wurde mit Laien gedreht, nur die Erwachsenen in Elephant
werden von ausgebildeten Schauspielern dargestellt. Das funktioniert erstaunlich
gut, mal wieder wird bewiesen, dass Laien für viele Stoffe die beste Besetzung
sind. Die vermeintlich realistische Atmosphäre von Elephant,
die durchzogen wird von ihren Stilisierungen und filmästhetischen Extravaganzen,
schafft ein beklemmendes Bild jener Geschehnisse, die van Sant aufzuarbeiten
versucht. Schwachstellen deuten sich nur an, wenn der Film in Erklärungen
abgleitet: Es sind ausgerechnet die Schüler, die eben noch an ihrem Computer
im Spiel zahllose Menschen niedergeschossen haben, die kurz darauf auch ihre
Schule mit Gewalt und Tod durchziehen, und die Parallele entsteht nicht nur
in der Erzählung, sondern auch im Bild: Am Computerbildschirm und in der
Schule - es ist die gleiche Kadrierung der Flüchtenden, auf die eine Waffe
zielt, die uns gezeigt wird. Jene Versuche der Erklärung aber bleiben hilflos,
und was van Sants Film zu einem so herausragenden Stück Kino macht, ist
die Tatsache, dass er gar nicht erst versucht, seine Hilflosigkeit zu verbergen.
Die Analogie zwischen gewaltverherrlichendem Computerspiel und Amoklauf in der
Schule wird gezeigt, aber danach nie wieder erwähnt. Auch die Szene, in
der einer der beiden Amokläufer im Klassenzimmer gehänselt wird, bleibt
für sich allein und ohne direkten Bezug zu seiner Tat: Van Sant behauptet
nicht, die Taten, von denen er erzählt, zu verstehen, im Gegenteil evoziert
er mit Elephant
die völlige Leere, die einen an Hand nutzloser Erklärungsversuche
umgibt.
Das
ist es auch, was er mit dem - im Film nicht erklärten - Titel darstellen
wolle, sagt der Regisseur: das Unverständnis, das in der Parabel die Blinden
dem Elefanten entgegenbringen, den sie nur mit ihren Händen erfahren -
und dabei einer davon überzeugt ist, der Rüssel sei das ganze Tier,
während ein anderer glaubt, mit den Stoßzähnen das Wesen des
Elefanten erfasst zu haben. Ein Elefant ist die Gewalt, von der van Sant erzählt,
und er behauptet nicht, mehr zu sehen als die Blinden. All die Klischees sind
angeschnitten, Waffenbeschaffung im Internet, unterdrückte Homosexualität
oder eben Außenseitertum und Mediengewalt - genauso angeschnitten wie
die Teile des Elefanten. Somit ist die Schwachstelle der billigen Erklärungsmuster
in ihrer ganz unverblümten Ratlosigkeit eine der größten Stärken
des Films.
Benjamin
Happel
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der Filmzentrale mehrere Texte
Elephant
USA
2003 - Regie: Gus van Sant - Darsteller: Alex Frost, Eric Deulen, John Robinson,
Elias McConnell, Jordan Taylor, Carrie Finklea, Nicole George, Brittany Mountain,
Alicia Miles, Kristen Hicks, Bennie Dixon, Nathan Tyson - FSK: ab 12 - Länge:
81 min. - Start: 8.4.2004
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