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Barfuß
durch Hiroshima
Im Zuge des nach wie vor anhaltenden Manga–Booms
veröffentlichte der Carlsen Verlag in den Jahren 2004 und 2005 Keiji Nakazawas
autobiographische Comic-Erzählung „Barfuß durch Hiroshima“, worin
der Autor und Zeichner seine Leidensgeschichte vor, während und nach dem
Atombombenabwurf über das gänzlich militarisierte Hiroshima Revue
passieren lässt.
In Form seines Alter Ego Gen Nakaoka darf der Leser
mitverfolgen, wie dieser als kleiner Junge den Feuertod seiner Familie mitansehen
muss, um mit seiner überlebenden Mutter und der neugeborenen Schwester
in Trümmern, Elend und Tod die letzten Ressourcen des Lebenswillens vor
der ständigen Gefahr des Verhungerns zu mobilisieren. Vom Strahlentod,
um den niemand weiß, ganz zu schweigen. Dabei gelingt Nakazawa zugleich
ein eindringliches Portrait der letzten Tage Japans vor der Kapitulation. Die
Schilderungen des Fristens unter der Kriegspropaganda, der gewalttätigen
Unterdrückung und repressiven Ächtung jedweder Kritik, des militarisierten
Alltags der Bevölkerung, aber auch die Stigmatisierung der Überlebenden
seitens der relativ verschont gebliebenen Bewohner der ländlichen Gebiete,
die aggressive Ausgrenzung und der verschämte Ekel, die Aufgabe sämtlicher
Solidarität innerhalb der familiären Strukturen und die Organisation
des Schwarzmarkts gleichen in ihrer Detailversessenheit fast schon einer Analyse
des Ausnahmezustands, deren Drastik lediglich von den hin und wieder auftretenden,
humoristischen Elementen gebrochen wird, die sich vornehmlich der kindlichen
Perspektive des jungen Gens verdanken.
Eine breite Rezeption innerhalb der Feuilletons war
abzusehen, handelte es sich doch nicht nur um einen unleugbaren Klassiker der
neunten Kunst, sondern zudem um einen Comic mit sozialkritischem Impetus, dem
nach wie vor scheinbar wichtigsten Kriterium, um dem Medium ein wenig Platz
zwischen tätlich bedrohten Theaterkritikern und Eigenbeobachtungen erster
Heuschnupfsymptome einzuräumen.Wer es nicht glaubt, schlage einfach in
den Jahrgängen der letzten Jahre selber nach.
Um so erstaunlicher
mutet es da an, dass die Mitte 2006 von Anime Virtual veröffentlichte Edition
der gleichnamigen Zeichentrick – Adaption so sang- und klanglos unterging.
1983 und 1986 realisierte das renommierte Madhouse
– Studio in zwei Teilen eine kongeniale Umsetzung des Stoffs, die nun auch erstmals
im deutschsprachigen Raum vorliegt, wenn auch bloß in untertitelter Form.
Trotzdem einige Entschlackungen der Vorlage konstatiert werden müssen,
die insbesondere im zweiten Teil zu Buche schlagen und angesichts eines über
1000-seitigen Epos nicht verwundern sollten, so bleibt doch festzuhalten, dass
der Duktus des Mangas in den Film hinüber gerettet wurde. Der erste Teil
folgt zunächst dem kriegsgebeutelten, bereits von ständigen Entbehrungen
und Hunger geprägten Alltag der Familie Gens, bis nach einer halben Stunde
mit dem Abwurf der Bombe sämtliche Anflüge der etwaigen und manchmal
cartoonesken Idylle jäh zerstört werden. Trotz der universellen Vernichtung
ringsherum bleibt das Leid empathisch fassbar: Wenn Gen hilflos mitansehen muss,
wie sein Vater und seine Geschwister, eingeklemmt in den Trümmern ihrer
einst Schutz versprechenden Behausung, lebendig verbrennen, dann fällt
erst nachhaltig auf, wie selten das Kino derart grauenhaft und mitfühlend
den Zusammenhang zwischen individuellem Leid und struktureller Gewalt in Bilder
zu fassen schafft, ohne dabei in die Falle des Entwurfs einer negativen Anthropologie
der Menschheit zu verfallen, die eben eher einen Naturzustand, als gesellschaftsgenerierte
Mechanismen beklagt. Denn so sehr die Familienbehausung als scheinbares, eben
symbolisches Refugium vor den außerfamilialen Zugriffen fungieren soll,
so wenig hält es doch der Allmacht politischer Gewalt stand. Dieses zweideutige
Verständnis des Ausgeliefertseins wird nun weiß Gott nicht mit den
Mitteln eines kritisch-kausalistischen Kommentars in dem Sinne desavouiert,
dass eine Schuldzuweisung in Richtung der USA bereits den Kern des Dilemmas
benannt hätte.
Durch die Schilderung des kriegstreiberischen Japans
transportiert die Erzählstruktur stets implizit den doppeldeutigen Charakter
der politischen Zurichtung des Subjekts: gezwungen an der gesellschaftlichen
Partizipation des Überlebens Willen teilzunehmen und gleichzeitig als Entscheidungsträger
so unbeteiligt zu sein, dass selbst der eigene Tod als von außen beschlossene
Sache daherkommen kann, entspricht exakt dem Bild des totgeschlagenen Straßenkindes,
das in einer Sequenz des zweiten Teils der Willkür der sich neu formierenden
Polizei zum Opfer fällt. Hier findet Gen mitsamt seinem neu gefundenen
Ersatzbruder Kontakt zu einer Bande mäßig organisierter Waisenkinder
ohne Obdach, mit deren Hilfe er versucht, seine todkranke Mutter zu ernähren.
In der Comic–Vorlage befinden sich diese in den Zwängen der Yakuza, was
im Film lediglich in einem Satz angesprochen wird. Das tut der Sache jedoch
keinen Abbruch. Institutionen formieren sich neu, und als einzige Möglichkeit
zum Überleben bleibt für die Deklassierten der Deklassierten die Nachahmung
einer Schattenwirtschaft. Und die fällt nicht minder gewaltdurchsetzend
als ihr institutionaler Gegenpart aus: wegen ein paar gestohlener Kartoffeln
wird ein weiteres Straßenkind von einer Gruppe aufgebrachter Bauern in
den Tod gestürzt.
Es ist einzig der Optimismus und der bedinungslose
Lebenswille Gens, der diese Geschichte überhaupt goutierbar macht. Nachdem
seine Mutter zum Schluss gestorben ist, weil lebensrettende Medikamente unbezahlbar
sind, setzt er mit seinen Freunden zu einem Wettrennen ins neue Leben an. Indes,
es ist, wie schon im gesamten Verlauf des Films, seine letzte verbleibende Alternative,
und der Zuschauer weiß nun längst um die Tragik aller guten Absichten.
Sven Jachmann
Dieser Text ist zuerst erschienen in: fixpunkte
Barfuß
durch Hiroshima
[Hadashi no Gen]
Japan 1983/ 1986 (Madhouse)
insg. ca. 168 Min.
Regie: Mori Masaki/ Toshiho Hirata/
Akio Sakai/ Mamoru Shinzaki
Drehbuch: Keiji Nakazawa
Musik: Kentaro Haneda
Kamera: Kinichi Ishikawa
Produzent: Keiji Nakazawa
erstmals veröffentlicht als Anime Virtual DVD: 27.03.2006
[Kauf-DVD]
EAN-Nummer: 7640105231096
FSK: ab 16 Jahren
Ländercode: 2
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