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Ein
andalusischer Hund
Kaum
zu glauben, dass es einst eine Zeit gab, in der es verpönt und in einigen
Ländern sogar verboten war, etwas Irreales, einer Traumwelt Entsprungenes
darzustellen. 1929 war es so, und doch gab es nach dem Ersten Weltkrieg immer
wieder Rebellen, die sich gegen den Realismus verbündeten: Fünf Jahre
zuvor entstand das erste surrealistische Manifest nach André Breton.
Nun entstand aber endlich der erste vollkommen surrealistische Film. Das Meisterwerk
des Irrealen, des Traumhaften. "Der andalusische Hund", die beispielslose
Kollaboration von Luis Buñuel und Salvador Dalí, zweier Meister
des Surrealen. Aus ihrem Film sollte die Speerspitze der surrealistischen Bewegung
werden, heute ist sie die Speerspitze des surrealistischen Films.
Der
Inhalt, das Drehbuch dieses radikalen Werkes geht auf zwei Träume beider
Künstler zurück. Jedoch filterten Buñuel und Dalí alle
Bilder und Ideen hinfort, die zu einer Erklärung oder logischen Rationalität
hätten führen können. Ja, "Der andalusische Hund" sollte
die Irritation, die Eliminierung des Verstandesmäßigen und der Psychologie
in ihrer Totalen sein. Eine traditionelle Narration sucht man ebenfalls wie
eine logisch aufeinander aufbauende, sukzessive Szenenabfolge vergebens. Kein
Schnitt, keine Aktion auf der Leinwand sollte erklärbar, nicht einmal konkret
interpretierbar sein. So dient schon der Titel des Films zur Verunsicherung:
Einen Hund gibt es im ganzen Film nicht, und schon gar keinen andalusischen.
Die
Eröffnungssequenz dürfte die berühmteste und effektivste ihrer
Art in der gesamten Filmgeschichte sein. Wie in einem Märchen führt
uns der Zwischentitel "Es war einmal…" in das Geschehen ein. Buñuel
pafft eine Zigarette, schärft ein Rasiermesser. Er tritt hinaus auf einen
Balkon und erblickt den Vollmond. Eine Wolke nähert sich dem Mond. Plötzlich
scheint eine Frau vor ihm zu sitzen, und er öffnet mit seiner Hand ihr
linkes Auge weit. Die Wolke zerschneidet den Mond und im Gegenschnitt tut das
Rasiermesser das gleiche auf unfassbar brutale Art und Weise mit dem Auge der
Frau. Die Kamera bleibt in Detailaufnahme unangenehm nah an dem in zwei Hälften
zerschnittenen Auge, bis eine Flüssigkeit aus dem verstümmelten Organ
heraustropft. Dass gerade das Sehorgan, mit dem selbst der unbeteiligte Zuschauer
den Stummfilm erlebt, diese Attacke erfährt, ist kein Zufall. Der Beobachter
soll sich differenzieren, soll sich an dem Gesehenen beteiligen. Der Betrachter
soll aus Ekel und Schutz sein Auge schließen, nur um es gleich wieder
aus Neugier und Emotionalität zu öffnen. Oder man schließt seine
attackierten und verletzten Augen, um mit einem dritten, unterbewussten Auge
dem Geschehen zu folgen. Egal wie man auf diese Eröffnungssequenz reagiert,
eins ist klar: Der Schock dieser extrem graphischen Gewalt bleibt hängen,
und man erwartet von dem Film, je länger er läuft, immer wieder einen
Schock, eine Auflösung jener Größenordnung, jedoch hat der Film
seinen Höhepunkt mit der Eröffnung bereits erlebt – keine der nachfolgenden
Szenen kann eine annähernd künstlerische Qualität für sich
beanspruchen. Aber auch dies macht im "andalusischen Hund" Sinn: Selbst
der "Showdown" steht nicht an der Stelle, wo man ihn erwarten würde.
Ein
zweiter Zwischentitel erklärt uns, dass das Nachfolgende acht Jahre später
passieren würde. Dass die zeitliche Verschiebung völlig irrelevant
ist, dürfte jedem klar sein, denn plötzlich verfolgen wir die Geschichte
eines in Nonnenkleidern gehüllten Transvestiten, der auf einem Fahrrad
durch die Stadt radelt. Eine Frau möchte ihm zu Hilfe kommen, als er unvermittelt
zu Tode stürzt. Dann jedoch scheint er sich in ihrem Bett wieder zu finden.
Buñuels Geschichte gegen die Bourgeoisie wird immer loser, immer zufälliger.
Manches scheint eine bloße, visuelle Provokation zu sein, wie die Ameisen,
die aus einem Loch in der Hand des Mannes herausklettern; anderes ist in der
Tat eine deutbare Metapher auf das mit Erwartungen und Pflichten belastete,
bürgerliche Leben, wie etwa der Moment, in dem der Mann einen Klavierflügel
hinter sich herzerrt, aus dem Edelskadaver herausragen, und Priesterseminaristen
angekettet sind. Weiterhin sehen wir eine abgetrennte Hand, die auf offener
Straße durch einen Stock umher gestoßen wird; eine Frau, die ihre
Achselbehaarung an den Mund ihres möglichen Vergewaltigers transformiert;
Aufnahmen von Seeigeln; ein Buch wird zu einem Revolver; am Ende versteinert
ein vorher noch glückliches Paar an einem Strand.
Wenn
Buñuel sagt, sein Film wäre militant, dann insofern, als dass er
sich direkt gegen die Autoritäten dieser Welt richtet. Wenn der "Held"
der "Geschichte" durch all die Einwirkungen und Erwartungen an ihn
gehemmt wird, das Objekt seiner Begierde, die Frau, auf die Art und Weise zu
berühren, wie es ihm seine Leidenschaft diktiert, dann sollen das Klavier,
das er hinter sich her zieht, die westliche Kultur darstellen, die Priester
die religiöse Autorität. Diese eine Szene ist wohl die einzige, die
recht eindeutig und einfach zu lesen ist; und es ist auch jene, die sich direkt,
wie ein filmischer Faustschlag, gegen die Feinde des Surrealismus, die Intellektuellen,
die Bourgeoisie richtet.
"Der
andalusischer Hund" hebt alle bisherigen filmischen Konventionen auf. Der
Schnitt des Films dient nicht mehr zur Harmonisierung des Zuschauers mit dem
vorgegaukelten Geschehen und dem erlogenen Raum, sondern zur kargen Desorientierung
und Aufhebung der Kontinuität der Geschehnisse. Die Bilder erzählen
uns keine Geschichte, umreißen keinen Plot, vermitteln uns keine Moral,
sondern schockieren nur, provozieren uns lediglich und attackieren uns, fordern
uns auf anarchische Weise heraus. Der Film weist alle filmischen Konzepte ab,
und stützt sich selber auf eine These, die besagt, dass man keine konkrete
These haben darf, um diese zu verwirklichen. Der Film, der sich und seine Kunst
selber in Frage stellt, und letzten Endes doch als ein solcher resultiert. Denn
"Der andalusische Hund" ist deswegen Kunst, weil er trotz seiner Sinnlosigkeit
Emotionen in uns freisetzt. Er verstört uns, schockt uns und irritiert
uns. Ist damit der Zweck des Films erfüllt? Diese Frage bleibt offen, wie
alle inhaltlichen Fragen des Films offen bleiben.
Filmisch,
sowie surrealistisch revolutionär, ist Buñuels "andalusischer
Hund" der bekannteste und beste Kurzfilm aller Zeiten. Siebzehn Minuten
pure, skurrile Energie, sinnlose Gedankenfragmente, die in einem gigantischen
Trip über Gewalt und Sex, und somit über Menschlichkeit und durch
die Gesellschaft bestimmte Unmenschlichkeit, explodieren. Eine Interpretation
forderten die beiden Denker des Films nicht, sie wollten den konservativen Bürgern
an den Karren fahren, sie wollten sie aufwühlen, und ihnen eine lange Nase
zu machen. Die Zielgruppe Buñuels waren seine Feinde, die sich ärgern
sollten, Geld für den Film ausgegeben zu haben – daher versteckte sich
Buñuel auch hinter der Leinwand, bewaffnet mit Steinen, sollte es zur
erwarteten Eskalation kommen. Heute können wir den Film als brillantes,
innovatives Gründungswerk des filmischen Surrealismus feiern, können
uns endlich an der Vollkommenheit dieses wunderbaren Werks erfreuen.
Björn
Last
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv
Ein
andalusischer Hund
Originaltitel:
Un chien andalou. Frankreich,
1929. Regie: Luis Buñuel. Drehbuch: Salvador Dalí, Luis Buñuel.
Produktion: Luis Buñuel. Kamera: Albert Duverger. Schnitt: Luis Buñuel.
Darsteller: Simone Mareuil (Junges Mädchen), Pierre Batcheff (Mann), Luis
Buñuel (Mann mit der Rasierklinge), Salvador Dalí (Priesterseminarist),
Robert Hommet (Junger Mann), Marval (Priesterseminarist), Fano Messan (Hermaphrodit),
Jaime Miravilles (Priesterseminarist). Schwarzweiß. 17 Min.
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