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Die
Affäre Dreyfus
"J'accuse"
Es gibt wohl kaum ein anderes
Ereignis in der französischen Geschichte nach der Französischen Revolution
- zumindest nicht während der Friedenszeiten -, das die soziale, politische,
kulturelle Entwicklung des Landes derart nachhaltig geprägt hat wie die
sog. Dreyfus-Affäre. Bis heute scheint der am 22.12.1894 zu lebenslanger
Haft verurteilte Hauptmann Dreyfus in Frankreich nicht vollständig rehabilitiert
zu sein. 100 Jahre nach der juristischen Rehabilitierung von Dreyfus, am 12.7.2006,
entschied Staatspräsident Chirac, für Dreyfus eine Feier in einer
Militärschule in Paris zu organisieren. Die Aufnahme der sterblichen Überreste
in den Panthéon allerdings wird Dreyfus bis heute verweigert.
Und auch das französische Militär weigert sich bis heute, Dreyfus
ein Denkmal zu setzen. Nur in den Jardines des Tuileries findet sich ein solches
Denkmal für den zu Unrecht und aufgrund von Intrigen u.a. zum Hochverrat
verurteilten Hauptmann der französischen Armee.
Die Geschichte um Dreyfus und
die Folgen ist mehrfach in Filmen behandelt worden, u.a. 1930 mit Fritz Kortner
in der Hauptrolle, 1931 mit Cedric Hardwicke und 1959 mit Dieter Borsche. 1995
nahm sich Yves Boisset des Themas an und unternahm den sicherlich gewagten Versuch,
die Geschichte möglichst umfassend zu dokumentieren. Das 210 Minuten lange
u.a. für La Sept Arte produzierte Fernsehspiel setzt dabei vor allem auf
eine detailgetreue Rekonstruktion der Ereignisse von der Entdeckung eines zunächst
unbekannten Spions, der für den deutschen Militärattaché arbeitete,
1894 bis zur Freilassung von Dreyfus 1899.
1894. Der Offizier Esterhazy besucht
regelmäßig den deutschen Militärattaché Schwartzkoppen,
um ihm Geheimmaterial aus dem französischen Kriegsministerium anzubieten.
Esterhazy lebt über seine Verhältnisse, ist ständig verschuldet
und versucht, über die Spionage für die Deutschen an Geld zu kommen.
Doch auch das französische Kriegsministerium hat bei Schwartzkoppen eine
Spionin, die dort angestellte Madam Bastian, die eines Tages im Papierkorb von
Schwartzkoppen ein Dokument findet, das sie dem in der Geheimdienstabteilung
des Kriegsministeriums arbeitenden Major Henry übergibt. Henry, der ebenfalls
im Geheimdienst arbeitende Du Paty, Leutnant Picquart und General Boideffre
rätseln zunächst, wer das Papier, das Einzelheiten über neue
Waffen etc. enthält, geschrieben haben könnte. Aus den Einzelheiten,
die dort aufgeschrieben wurden, doch vor allem wegen ihrer antisemitischen Überzeugung
verdächtigen sie schon bald den Hauptmann Alfred Dreyfus, einen Juden.
Kurz darauf wird Dreyfus unter
einem Vorwand ins Kriegsministerium gerufen und verhaftet. Dreyfus wird in Einzelhaft
gesperrt, jeglicher Kontakt mit der Außenwelt wird ihm untersagt. Auch
seiner Frau gegenüber schweigt Du Paty, als er die Wohnung der Dreyfus
durchsuchen lässt. Obwohl keine Beweise gegen Dreyfus vorliegen und obwohl
Handschriftenproben keine Übereinstimmung mit dem gefundenen Papier ergeben,
wird Dreyfus der Prozess gemacht. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen,
den Richtern heimlich ein gefälschtes Dokument zugespielt, das Dreyfus
Schuld angeblich beweisen soll.
Dreyfus wird am 22.12.1894 zu
lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel (Französisch-Guyana) verurteilt.
In einer öffentlichen "Zeremonie" am 5. Januar 1895 wird Dreyfus
militärisch degradiert - unter dem Beifall der vor den Toren der École
Militaire versammelten Menge, die sich in antisemitischen Sprechchören
ergießt und "Tod Dreyfus" und "Tod den Juden" ruft.
Auch in "Le Figaro" werden diese antisemischen Hetztiraden in Artikeln
unterstützt, ebenso in der Zeitung der katholischen Kirche.
Der Verteidiger von Dreyfus Demange,
Dreyfus Bruder Mathieu und seine Frau Lucie jedoch wollen nicht aufgeben. Sie
nehmen Kontakt zu dem Publizisten Lazare auf, der dafür sorgen soll, dass
die öffentliche Meinung, die ganz überwiegend gegen Dreyfus eingestellt
ist, sich ändert und eine Revision des Prozesses fordert. Lazare stellt
alle Fakten und Indizien zusammen und publiziert dies.
Als der ermittelnde Leutnant Picquart
aus dem Kriegsministerium 1895 zum Colonel befördert und ihm die geheimdienstliche
Abteilung des Ministeriums übertragen wird, findet er eines Tages auf seinem
Schreibtisch weiteres Material, das Madame Bastian über Henry aus der deutschen
Militärbotschaft entwendet hat. Darunter befindet sich ein Schriftstück,
auf dem der Name Esterhazys - des wirklichen Spions - steht. Doch Picquart,
der jetzt starke Zweifel an der Schuld von Dreyfus hat, stößt bei
seinen Vorgesetzten und beim Kriegsminister nicht nur auf taube Ohren. Sie weisen
ihn an, über diese Entdeckung zu schweigen. Picquart ist entsetzt. Er lanciert
seine Informationen an Mathieu Dreyfus, der Esterhazy daraufhin öffentlich
beschuldigt, der wahre Spion zu sein.
Während Henry beauftragt
wird, an der Fälschung von weiteren Dokumenten zu arbeiten, die Dreyfus
zusätzlich belasten sollen, versetzt man Picquart nach Tunis, um ihn mundtot
zu machen.
Trotz allem kommen die staatlichen
Behörden aufgrund der öffentlichen Meinung, in der langsam, aber sicher
und vermehrt Zweifel an der Schuld von Dreyfus laut werden, nicht mehr darum
herum, Esterhazy den Prozess zu machen. Sie hoffen, dass sich durch einen Scheinprozess
die Lage wieder beruhigt. Esterhazy wird freigesprochen.
Und jetzt passiert etwas, womit
die Intriganten und Antisemiten im Kriegsministerium nicht gerechnet haben.
Kein anderer als Emile Zola, der damals bedeutendste französische Schriftsteller,
veröffentlicht in der Literaturzeitschrift "L'Aurore" des späteren
französischen Ministerpräsidenten Clemenceau sein berühmt gewordenes
Pamphlet "J'accuse", in dem - ohne dass Zola wirklich Beweise hat
- der französische Ministerpräsident angesprochen wird. Zola nennt
nicht nur die Namen der Intriganten. Er beschuldigt sie der Lüge, des Komplotts
und der Feigheit und fordert, dass der wahre Schuldige Esterhazy verurteilt
und Dreyfus rehabilitiert wird. Wegen Beleidigung u.a. wird Zola verurteilt.
Doch inzwischen ist nicht nur bekannt geworden, dass Henry bewusst Dokumente
gefälscht hat. Die Öffentlichkeit steht mehrheitlich nun auf Seiten
des Verurteilten, der 1899 freigelassen, allerdings wiederum verurteilt wird
(zu 10 Jahren Haft), dann allerdings vom Ministerpräsidenten aufgrund des
öffentlichen Drucks und auch von Protesten aus dem Ausland begnadigt wird.
Erst 1906 hebt das Kassationsgericht
das erste Urteil gegen Dreyfus auf und erklärt es endgültig für
nichtig.
Boisset schildert diese Ereignisse
- und einiges mehr - in einer dramaturgisch sehr dichten Inszenierung. In dem
fast dreieinhalb Stunden langen Film kommt eigentlich nie Langeweile auf, auch
wenn die Verfolgung der Ereignisse manchmal durchaus anstrengend ist. Trotzdem
kann man die Verwicklung der zahlreichen Personen - darunter auch des Sozialistenführers
Léon Blum, der lange an Dreyfus Unschuld zweifelt, und des Schriftstellers
Marcel Proust - in die Ereignisse gut verfolgen. Die Inszenierung ist - trotz
der zahlreichen Einzelereignisse - nie wirr; der rote Faden bleibt stets erhalten.
Der Film hält sich an den
Grundsatz der Einheitlichkeit des Dramas (Einheit von Ort, Zeit und Handlung),
weicht nicht auf Nebenschauplätze aus. Zwischendurch wechselt Boisset ein
paar Mal den Ort des Geschehens, um Dreyfus Leben auf der Teufelsinsel zu zeigen.
Man sieht den Verurteilten, einsam auf einer abgelegenen Insel, in Einzelhaft
in einer Holzhütte (in Wirklichkeit wohl ein Steinbau), die nach ein paar
Monaten Haft auf Anweisung des Kriegsministeriums mit einer Palisade aus Holzpflöcken
umzingelt wird, so dass Dreyfus nicht einmal aufs Meer schauen kann. Thierry
Frémont spielt einen verzweifelten, kranken Mann, der aber trotz seines
furchtbaren Schicksals nie aufhört, an die Gerechtigkeit - selbst des französischen
Militärs - zu glauben. Dieser Glaube und die Liebe zu seiner Familie, die
sich über all die Jahre permanent und vehement für ihn einsetzt, geben
ihm - trotz schwerer Krankheiten - die Kraft zu überleben.
Boisset zeigt weiterhin die intriganten
Machenschaften im Kriegsministerium. Er zeigt einen hinterhältigen und
machtbesessenen General de Boideffre, einen ebensolchen Minister namens Mercier,
einen militärischer Macht gegenüber devoten Major Henry, einen im
Grunde innerlich völlig schwachen Spion Esterhazy, der durch den Schutz
der Behörden allerdings glaubt, sein erbärmliches Leben fortführen
zu können. Er zeigt aber auch einen Colonel Picquart, der sich im Lauf
der Zeit wandelt, der nach der Entdeckung der neuen Dokumente sein eigenes Gewissen
für wichtiger hält als den (Kadaver-)Gehorsam gegenüber seinen
Vorgesetzten, der Degradierung und Strafversetzung auf sich nimmt, was er nicht
gemusst hätte.
In den Film montiert sind immer
wieder die erschreckenden Szenen antisemitischer Demonstrationen und Ausschreitungen,
in deren Verlauf auch jüdische Geschäfte zerstört werden. Vor
allem aber zeigt der Film die Bedeutung eines Teil der französischen Publizisten,
Intellektuellen und auch Politiker (vor allem der Linken und Republikaner) für
die Aufklärung der Affäre Dreyfus, die in Wirklichkeit eine Affäre
des Staates war. Nicht nur Zolas "J'accuse", auch die Arbeit der Sozialisten
und Republikaner im Parlament und die der Zeitungen und Zeitschriften, z.B.
von Clemenceau, für die Aufdeckung des staatlichen Lügengebäudes
und des Komplotts gegen Dreyfus sowie für die Bedeutung des Antisemitismus
bei dessen Verurteilung und bei der jahrelangen Vereitelung der wirklichen Umstände
kommen in dem Film gut zur Wirkung.
Das heißt vor allem: Der
Film verdeutlicht, wie durch die Affäre Dreyfus die tiefe Spaltung der
französischen Gesellschaft offenbar wurde. Auf der einen Seite standen
Konservative, katholische Kirche und ein Großteil der Publizistik, die
nicht nur antisemitisch waren, sondern für die auch Staatsräson, Gehorsam
und militärische Stärke Vorrang vor allem anderen, vor allem vor Demokratie
und Menschenrechten, hatten. Auf der anderen Seite stehen Republikaner, Sozialisten
und zunächst einige wenige Publizisten und Zeitungen, die letztlich auf
die positiven Errungenschaften der Französischen Revolution rekurrierten
und darauf pochten, dass rechtsstaatliche Verfahren, Menschenrechte und insgesamt
Demokratie im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens zu stehen hatten. "J'accuse"
wird noch heute als eine Art "Gründungsurkunde" einer reformierten
französischen Gesellschaft eingeschätzt und vor allem als Dokument,
das fortan die kritische Aufgabe der Intellektuellen in der Gesellschaft begründete
- obwohl das Pamphlet sicherlich auch Passagen enthält, die mehr im Trüben
fischen und pathetisch wirken, als in der Tradition der Aufklärung zu stehen.
Die Folgen der Affäre - in
der staatliche Institutionen aus Machtgelüsten heraus und in antidemokratischer
und antisemitischer Gesinnung immerhin einen wirklichen Spion (Esterhazy) schützten,
also im Grunde selbst Hochverrat begangen hatten ! - waren drastisch. Die
katholische Kirche, in ihren moralischen Vorstellungen reaktionär und rigide
und eine Speerspitze des Antisemitismus - wurde nach der Freilassung von Dreyfus
quasi entmachtet. Über 2.500 kirchliche Schulen wurden geschlossen, Mitglieder
von Ordensgemeinschaften durften nicht mehr als Lehrer arbeiten. Am 9.12.1905
hob ein Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat das Konkordat mit dem Vatikan
einseitig auf, die Finanzierung der Kirchen durch den Staat wurde abgeschafft,
Religionsunterricht wurde an den Schulen aus einem Pflichtfach zu einer freiwilligen
Angelegenheit erklärt, das Kruzifix aus den Schulen verbannt.
Diese Dinge, und weitere nach
der Dreyfus-Affäre eingeleitete Liberalisierungen, wirken bis heute fort.
Und es ist "J'accuse", dieses Pamphlet Zolas, das eine Tradition politischer
Verantwortung, insbesondere der Intellektuellen, in Frankreich in Gang setzte.
Dreyfus selbst wurde zwar wieder
in die Armee aufgenommen, allerdings 1907 bereits in den Ruhestand versetzt.
Er nahm als Freiwilliger am ersten Weltkrieg teil und starb 1935 im Alter von
75 Jahren.
"Die Affäre Dreyfus"
ist ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, spannend inszeniert - trotz
seiner Länge - und sicherlich auch heute noch brisant angesichts immer
wiederkehrender Versuche, staatliche Macht zu missbrauchen, wie z.B. etliche
Geheimdienstaffären in verschiedenen Ländern Europas auch nach dem
zweiten Weltkrieg immer wieder demonstrierten.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
bei:
Die
Affäre Dreyfus
(L'Affaire
Dreyfus)
Frankreich,
Deutschland 1995, 210 Minuten
Regie:
Yves Boisset
Drehbuch:
Yves Boisset, Jean-Denis Bredin, Jorge Semprún
Musik:
Angélique Nachon, Jean-Claude Nachon
Kamera:
Yves Nahan, Jacques Loiseleux
Schnitt:
Laurence Leininger
Ausstattung:
Gilbert Gagneux
Darsteller:
Thierry Frémont (Alfred Dreyfus), Pierre Arditi (Esterhazy), Gérard
Desarthe (du Paty de Clam), Christian Brendel (Picquart), Bernard-Pierre Donnadieu
(Henry), Philippe Volter (Mathieu Dreyfus), Georges Wilson (de Boideffre), Helmut
Berger (Schwartzkoppen), Laura Morante (Lucie Dreyfus), Jean Bouchaud (Zurlinden),
Katerina Brozova (Marguerite Pays), Jacques Dacqmine (Mercier), André
Falcon (Sandherr), Greg Germain (Bravard), Jirí Knot (Gribelin), Philippe
Laudenbach (Bernard Lazare), Richard Martin (Forzinetti), Daniel Mesguich (Léon
Blum), Henri Poirier (Demange), Rita Brantalou (Drumont), Petr Popelka (Herzl),
Mathieu Demy (Marcel Proust), Jean-Claude Drouot (Émile Zola)
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