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4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
Cristian
Mungius eindrucksvolles Drama um eine Abtreibung zur Ceausescu-Zeit
Als 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage im Mai dieses Jahres die Goldene Palme in Cannes errang, war
sich die Kritik mit wenigen Ausnahmen einig: Mit der Prämierung des rumänischen
Dramas habe die Jury treffsicher den stärksten Film des sowieso schon starken
Wettbewerbs ausgezeichnet (übrigens zum ersten Mal überhaupt einen
rumänischen Film). Dabei waren es offensichtlich die inneren Werte, die
zählten: Denn der nach Okzident (2002) zweite Spielfilm des 1968 in Iasi geborenen Cristian Mungiu
kommt ästhetisch so karg und spröde daher wie das Land und die Zeit,
aus der er seine Geschichte nimmt: das Rumänien der ausgehenden achtziger
Jahre.
Es beginnt mit einem Wohnheimzimmer
als Bühne: Metallbetten, ein kleiner Tisch vor dem Fenster, Regale mit
alltäglichem Krimskrams. Und zwei junge Frauen, die sich auf ein nicht
genauer benanntes Vorhaben vorbereiten, während draußen vor dem Fenster
in großen Flocken der Schnee fällt. Eine Reise steht an, Fische in
einem kleinen Aquarium werden versorgt, auf einem Bett liegt ein aufgeklappter
Koffer. Doch während die blonde Otilia mit geschäftiger Entschlossenheit
ein zielgerichtetes Programm durchzuziehen scheint, ist die andere unsicher
und zaudernd und muss immer wieder Mut zugesprochen bekommen. Dann verlässt
Otilia den Raum, und die Kamera folgt ihr durch den dunklen Hausflur zu anderen
Zimmern, wo Kommilitonen einen geschäftigen Schwarzmarkt mit Kosmetik,
Getränken und Tabak betreiben. Nur die Marke „Kent“, auf die Otilia besonders
scharf ist, ist leider ausgegangen.
Geschickt spinnt Cristian Mungiu
im ersten Teil des Films eine Erzählstrategie, die unter dem Vorwand eines
fast dokumentarischen Naturalismus zentrale Informationen diskret zurückhält.
Die meisten ahnen es wohl schon bald, doch erst nach und nach beginnen wir wirklich
zu verstehen, wozu das alles dient: das geliehene Geld, das angemietete Hotelzimmer
und das Treffen mit einem Fremden im Auto an der Straßenecke: Gabita ist
schwanger und will abtreiben – in einem Land, in dem Schwangerschaftsabbrüche
zwar mit scharfen Gefängnisstrafen verfolgt werden, doch in großem
Umfang illegal praktiziert werden. Ein Zimmer in einem ganz bestimmten Hotel
hat Herr Bebe, der den Abbruch durchführen soll, bei seinen Klientinnen
dafür bestellt. Doch als Otilia dort ankommt, will die Dame an der Rezeption
von der Reservierung nichts wissen. Erst im nächsten Hotel klappt es nach
langen erniedrigenden Verhandlungen mit dem nächsten Empfangsdrachen und
mit Hilfe der „Kent“, die Otilia doch noch bei einem Schwarzhändler erstehen
konnte. Aber Herr Bebe, ein Familienvater mit warmer Stimme, ist ärgerlich,
weil auch anderes nicht so läuft wie verabredet, und findet das vereinbarte
Honorar plötzlich nicht mehr ausreichend. Gabitas Schwangerschaft ist schon
viel weiter fortgeschritten als von ihr zugegeben. Und Otilia, die die ganze
Angelegenheit für die etwas weltfremde Freundin organisiert, hat noch eine
andere Verpflichtung zu erfüllen. Die Mutter ihres Verlobten feiert Geburtstag
und Otilias Nichterscheinen wäre ein schwerer Affront.
Mit nüchterner Konsequenz
entfaltet Mungius Drehbuch aus dieser Konstellation eine ebenso schlichte wie
ergreifende Geschichte, die nebenbei und ganz unspektakulär unsere Erwartungen
an filmische Plotkonstruktionen unterläuft. Dazu braucht der Regisseur
keine doppelten Saltos oder verwegene Schicksalsfügungen, nur ein paar
Menschen und Räume, eine klare Perspektive (die von Otilia) und eine Kette
von Ereignissen und Zuständen, die so präzise auseinander folgen wie
die klandestine Operation und die daraus entstehenden Sachzwänge: Wir werden
Zeugen peinlicher Verhandlungen auf den verschiedensten Ebenen, erleben Bedrohung
und freundschaftliches Opfer, banges Warten und gehetzte Ausflüge in die
nächtliche Stadt, wo im Dunkel unheimliche Geräusche und Gestalten
lauern: stockfinstere rumänische Nacht, keine „amerikanische“, wo milder
Blauschleier auf den Schatten liegt. Und auch die Tage in der namenlosen Kleinstadt
wurden von Kameramann Oleg Mutu in ein bleiernes Licht getaucht, das jede
Lebensregung zu verschlucken scheint. Ein Tag und eine Nacht in 113 Filmminuten,
die sich fast wie Realzeit anfühlen, weil jede Szene in nur einer einzigen
genau durchkalkulierten Einstellung aufgelöst wurde. Dabei ist die Kamera
entweder fast unbewegt auf das Geschehen im Raum gerichtet oder sie folgt Otilia
dicht bei ihren zunehmend verzweifelteren Bewegungen durch die Stadt.
Der Film verzichtet bei seiner
bitteren Bestandsaufnahme ganz auf moralische Bewertungen. Die Wirklichkeit
ist grausam genug. „Lass uns nie wieder drüber reden“, bittet Otilia am
Ende ihre Freundin, als die beiden im verlassenen Hotelrestaurant sitzen und
die Autolichter im Fenster auf ihren Körpern reflektieren. Cristian Mungiu
hat sich das Gegenteil zum Programm gemacht: das verschämte Schweigen zu
brechen, das bis heute die Lebensgeschichten so vieler in seinem Land bestimmt.
„Tales from the Golden Age“ nennt er die Trilogie über den Alltag unter
Ceausescu, von der dieser Film der erste Teil sein soll. Sicherlich: 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage ist ein auf einer wahren Geschichte
beruhender und bis in die deprimierenden Milieuschilderungen akkurat recherchierter
Film. Doch wie jeder herausragende Film geht er weit über solch konkreten
Bezug hinaus, mit Themen von geradezu existenzieller Wucht: Hilflosigkeit, Angst
und Verantwortung, Leben und Tod, Freundschaft und Verrat. Aus solchem Stoff
einen auf den ersten Blick unscheinbar kleinen Film zu machen, das ist große
Kunst.
4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage ist ein auf einer wahren Geschichte
beruhender und bis in die deprimierenden Milieuschilderungen akkurat recherchierter
Film, der aber weit über seine konkreten Bezüge hinausgeht und Themen
von geradezu existenzieller Wucht anschlägt: Hilflosigkeit, Angst und Verantwortung,
Leben und Tod, Freundschaft und Verrat.
Silvia Hallensleben
Dieser Text ist
zuerst erschienen in:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
4 luni, 3 saptamani si 2 zile
Rumänien 2007. R und B: Cristian Mungiu. P: Oleg Mutu, Cristian Mungiu.
K: Oleg Mutu. Sch: Dana Bunescu. T: Titi Fleancu, Dana Bunescu, Cristian Tarnovetchi. A: Mihaela Poenaru. Ko: Dana Estrate. Pg: Mobra/Saga.
V: Concorde. L: 113 Min. Da: Anamaria Marinca (Otilia), Laura Vasiliu (Gabita),
Vlad Ivanov (Domnu Bebe), Alex Potocean (Adi), Luminita Gheorghiu (Adis Mutter), Adi Carauleanu (Adis Vater).
Dt. Start: 22.11.2007
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