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Gedämpfte
Töne, Wortsplitter, halbe Sätze, kaum ein Lachen.
Über einige Filme von Jürgen
Böttcher
Es ist Nacht über dem Marx-Engels-Forum
in Berlin Mitte. Spitzes Licht fällt auf das Denkmal im Hintergrund und
modelliert die glatt polierten Konturen der überlebensgroßen Gestalten.
Davor, mit dem Rücken zum Zuschauer sitzend, bearbeitet der Schlagzeuger
Günter Sommer Drum-set, Bongos, Kesselpauke und Becken. Mit dem Saxophon
wandert Dietmar Diesner bedächtigen Schritts auf und ab, lässt in
einem tiefen, zerdehnten Ton seine Improvisation ausklingen. Sommer legt sacht
seine Hand auf das vibrierende Becken. Stille, effektvoll langsame Abblende.
Der Film könnte nun zu Ende sein. Aber er ist nicht ganz zu Ende. Noch
einmal Aufblende: die Trommel ist jetzt nah zu sehen, auch die Hände von
Sommer, der jetzt einen Wirbel schlägt, der Wirbel wird heftiger, zorniger,
durchschnitten vom metallischen Peitschen des Beckens, geht dann über in
einen moderaten, aber noch immer beunruhigten Rhythmus, der die Abblende überlebt
und nun unter dem Nachspann weiterläuft. Es sind dies die bis heute letzten
Filmbilder des Dokumentarfilmers Jürgen Böttcher, KONZERT IM FREIEN
heißt der Film, er entstand 2001.
***
Es gibt Unglücksraben – und es gibt
tragische Fälle in der deutschen Filmgeschichte. Bei Jürgen Böttcher
zögert man, ihn der einen oder der anderen Gruppe zuzurechnen. Tragik ist
unaufhebbar, auch glückliche Wendungen in einer Biografie korrigieren nicht
ihre Verlaufsform, hellen ihren dunklen Grundton nicht auf. Blickt man auf Böttchers
Werkbiografie als Filmemacher, so scheint es auch keine „glückliche Wendung“
gegeben zu haben – die deutsche Wende von 1989 war es offenbar nicht: den weit
über 40 Filmen, die in der DDR entstanden, folgen nur noch zwei, nachdem
die Mauer fiel. Es sieht so aus, als verliere sich da eine Spur, oder: als verwische
jemand zögernd die Zeichen, die er einmal gesetzt hat und denen er nicht
mehr traut.
„Warum ist Herr B. unglücklich?“
fragte Kraft Wetzel, nachdem Böttcher im Rahmen des Internationalen Dokumentarfilmfestivals
Leipzig im Jahr 2000 eine Retrospektive gewidmet worden war. „Was will einer
mehr? Könnte Jürgen Böttcher (…) nicht zufrieden sein mit soviel
Anerkennung? Doch in Leipzig reagierte er in den Gesprächen mit dem Publikum
auf jeden Anflug von Kritik gereizt und heftig. Freunden gegenüber, die
ihn beschwichtigen wollten, ihm zu Gelassenheit, Souveränität und
Coolness rieten, zeigte er sich ungehalten. Warum ist dieser Mann so unglücklich?“
Als Maler wurde Jürgen Böttcher (alias Strawalde) einst von der SED
als Formalist gescholten und aus dem Verband Bildender Künstler ausgeschlossen.
„Ein Bild wie Die Beweinung
(1958), das ich mit 27
Jahren malte, wo mein Kriegserlebnis und der Tod meines Bruders verarbeitet
werden, das haben die mir um die Ohren gehauen, nie ausgestellt und gesagt,
das sei Formalismus. Dabei ist es ein ganz realistisches Bild. Jetzt ist es
im Besitz der Nationalgalerie und hing ein halbes Jahr in der Neuen Nationalgalerie
neben Max Beckmann.“ In den Galerien und Museen der westlichen Welt machte dieser
Künstler aus dem ‚anderen Deutschland’ eine nachgerade unaufhaltsame Karriere.
Seine Bilder hängen heute in der Berliner Nationalgalerie und im Reichstagsgebäude,
im Dresdener Albertinum und im Kölner Museum Ludwig, in der Bibliothèque
Nationale de France und in der Boston Public Library. Ist das nun eine glückliche
Fügung, die im Leben eines Unglücksraben für Genugtuung nach
erlittener Drangsal sorgt? Vielleicht.
Doch der Schatten des Tragischen bleibt,
wenn man bedenkt, dass Böttcher einer vielfach gebeutelten, im Krieg traumatisierten,
in der DDR gegängelten Generation angehört. Als Deutschland in Trümmern
lag, war er vierzehn und hatte schon die Angst, den Hass, die Wut kennen gelernt.
„…der Vater fort, der Bruder fort, Truppentransporte, das Radio mit hysterischen
Sondermeldungen und schrecklichen Schlagern (…), Gefangenentransporte, viele
Trauerkleider, das Begräbnis des toten Bruders, die Häuser des Dorfes
zerschossen, viele Tote auf den Wiesen, auf denen wir gespielt hatten.“ Als die Mauer fiel, war er fast sechzig
und sein Vorrat an Illusionen vermutlich verbraucht.
***
Ein Kameraschwenk über eine eintönige
Heidelandschaft irgendwo bei Berlin, eine Abraumhalde, Gestrüpp und ockerfarbener
Sand unter grauem Himmel. Wenn die Kamera zum Stillstand kommt, blickt sie auf
Schrott, Teile von Betonplatten, Eisenträger, Müll einer verkorksten
Epoche. Von nahen über halbnahe zu halbtotalen Einstellungen: bemalte und
beschriftete Betonteile, die sich jetzt als Reste der Berliner Mauer zu erkennen
geben, teils übereinander getürmt, wie achtlos in die Landschaft gewürfelt
und vergessen. Das Gezwitscher eines Vogels, das Geräusch eines fernen
Flugzeugs, die Vibrationen der Stille. Nach gut zwei Minuten das Titelinsert.
Dies ist der Anfang von Jürgen Böttchers vorletztem Film DIE MAUER,
1989/90.
Aus der Sicht der Reporter, der aktuellen
Berichterstatter und Fernsehdokumentaristen hat dieser Film keine Konzeption.
Wer für das Fernsehen filmt, beobachtet die ‚Wirklichkeit’ nach Maßgabe
einer präfabrizierten Struktur, in die er ihre Teilaspekte einfügen
kann, um sie für sich selbst beherrschbar und für die Fernsehzuschauer
‚übersichtlich’ und ‚verständlich’ zu machen. Je dynamischer die ‚Wirklichkeit’,
je heftiger ihre Spannungsbögen, desto rigider das Konzept: es soll ja
Hilfe leisten in einer schwer durchschaubaren Welt voller unerhörter Begebenheiten.
Jürgen Böttcher hat kein ‚Konzept’.
Die Öffnung der Mauer ist eine unerhörte Begebenheit, die seine Beobachtungsgabe
stimuliert, seine Sinne schärft und sie auf Wanderschaft schickt. Gemeinsam
mit seinem Kameramann Thomas Plenert streift er durch ein Terrain, das mit ‚Wirklichkeit’
vollgestopft ist, aber irreal scheint, ein Traumgelände, randscharf herausgeschnitten
aus dem normalen Gang der Dinge. Böttcher sammelt, und es ist seine Sammlerobsession,
die den Fluss, den Rhythmus, die Vernetzung der Bilder steuert.
Ein Sammler unter Sammlern: auch die ‚Mauerspechte’,
jene sonderbaren Leute, die in den Tagen und Wochen nach der Maueröffnung
mit meist unzulänglichem Gerät das steinerne Ungetüm bearbeiten,
beginnen als Sammler, bis viele entdecken, dass man aus der allgemeinen Sammelleidenschaft
ein Geschäft mit Souvenirs machen kann. Erinnerungen verhalten sich zu
Souvenirs wie das kollektive Gedächtnis zur Nippesvitrine – was sie verbindet,
ist die Obsession. Nur: Souvenirs drängen auf den Markt; ihr Gegenwert
wird in klingender Münze gemessen. Erinnerungen sind unveräußerlich
– wie die Bilder und Klänge, denen sie eingeschrieben sind.
Böttcher beobachtet eine Frau, die
angestrengt ihr Ohr an die Mauer hält, eine Lauscherin an der Wand, die
Geräusche sammelt: das Klopfen der Mauerspechte auf der anderen, östlichen
Seite, wo die Mauer einmal ‚Schutzwall’ hieß. In den Katakomben des still
gelegten U-Bahnhofs Potsdamer Platz, zwischen rohen Betonwänden und Wasserlachen,
findet Böttcher verstörende Wandzeichnungen, und er stellt zwei Wachhabende
vor die Kamera, die bereitwillig ins Objektiv blicken,
lange und wortlos. Genau genommen gibt es im Kino immer zwei Blickrichtungen:
den Blick des Zuschauers auf die Leinwand und die Blicke, mit denen die Menschen
auf der Leinwand uns, die Zuschauer, anschauen könnten, wenn es ihnen die
Konventionen des Erzählkinos und des Fernsehens erlauben würden. Jürgen
Böttcher erlaubt es ihnen hier. Wahrscheinlich hat er die beiden Polizisten
mehr oder weniger sanft dazu überreden müssen.
***
„Wäre es nicht an der Zeit“, fragt
Kraft Wetzel, „das alte Spiel von Heldenverehrung und Vatermord abzubrechen?
Reine Helden auf Sockeln: Die brauchen wir doch nicht mehr.“
Es trifft wohl zu, dass Böttcher zu oft auf den Sockel gehoben und
wieder heruntergerissen wurde.
Nur ein Jahr liegt zwischen seinem ersten
Film DREI VON VIELEN (1961), der alsbald verboten wurde, weil die hier porträtierten
Arbeiter für die Kustoden des Parteigeschmacks ein allzu lockeres und unangepasstes
Leben führten, und der Arbeit OFENBAUER (1962), mit dem sich Böttcher
als Angestellter des staatlichen DEFA-Dokumentarfilmstudios bewährte und
für die Hall of Fame der offiziösen DDR-Filmgeschichtsschreibung aus
der Feder von Horst Knietzsch empfahl: „Hier war in einem mitreißenden
Dokumentarbericht eine Heldentat aus den Augusttagen des Jahres 1962 im Eisenhüttenkombinat
Ost aufgezeichnet“ – eine
herkulische Plackerei, bei der ein 2000 Tonnen schwerer Hochofen um 18 Meter
verschoben werden musste und die Ausfallzeit halbiert, also eine ‚sozialistische
Bestleistung’ erzielt wurde.
Drei Jahre und acht kurze Filme später
aber war schon wieder alles aus: Nach dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees
im Dezember 1965, das eine nahezu komplette Jahresproduktion der DEFA mit dem
Bannstrahl traf, wurde auch Böttchers einziger Spielfilm, JAHRGANG 45 (1966),
verboten, eine berührende Liebeserklärung an die Generation der damals
Zwanzigjährigen, die sich, von Staat und Partei umzingelt, ihre kleinen
Fluchtwege freizuschaufeln, ihren Anspruch auf individuelles Glück zu bewahren
sucht. Als „nihilistisch und skeptizistisch“ rügte die Partei, was für
Böttcher nicht zuletzt Suche nach einer eigenen Handschrift, Stilexperiment
und kunstvolles Spiel mit dem „unverfälschten Augenblick“ war: eine Hommage
in Schwarzweiß an den Neorealismus Rossellinis und de Sicas, ein Gruß
an die französische ‚nouvelle vague’ und ein verstohlener Wink über
die Grenze an die Adresse jener jungen westdeutschen Kollegen, die 1965 ihre
ersten Spielfilme drehten.
„Das Verhältnis von persönlichem
Glück und gesellschaftlichem Wohl“ sei ein Problem, das ihn immer sehr
beschäftigt habe, schreibt Jürgen Böttcher 1966 einleitend in
einem Aufsatz, den er seinem Film STARS gewidmet hat. Das klingt nach Besinnungsaufsatz,
umschreibt aber das Kernproblem der realsozialistischen Gesellschaft und ihres
Selbstbilds. Die Konsequenz des Dokumentaristen: „Mich interessiert (…) vor
allem eine Art Synthese von persönlicher und gesellschaftlicher Dokumentation.
Ich möchte gern einmal Filme realisieren, die zusammen mit der gesellschaftlichen
Wahrheit besondere individuelle Impulse ausstrahlen, wie wir es von lebendigen,
ehrlichen Autobiographien kennen.“
Hätte Böttcher es sich leicht
gemacht und den Erwartungen der Parteioberen (oder des Fernsehens) entsprechen
wollen, hätte er das schwierige Verhältnis von individuellem Glück
und gesellschaftlichem Wohl in klug formulierte Worte fassen und die Synthese
in den Kommentar hinein schreiben können. Böttcher hat es sich nicht
leicht gemacht. Er hat versucht – ähnlich wie in der Bundesrepublik jener
Zeit sein Kollege Klaus Wildenhahn, wie Chris Marker, Jean Rouch und das ‚cinéma
vérité’ in Frankreich – , das Vertrauen der Menschen vor der Kamera
zu gewinnen und sie zum Sprechen zu ermuntern: zum rückhaltlosen Sprechen
über sich selbst.
Gewiss: diese „neue komplizierte Ebene“
türmt neue Probleme auf. Die Parteilenker behandeln diese Probleme ideologisch:
in STARS (1963) muss Böttcher auf eine Szene verzichten, in der eine Gruppe
von Arbeiterinnen den Vorhaltungen ihrer Brigadierin entschieden widerspricht.
Aus der Sicht der Parteilenker, die an der Abschaffung der Klassen auf dem Weg
in die kommunistische Gesellschaft arbeiten, wird der Widerspruch im Film nicht
‚aufgelöst’. Der Zuschauer wird mit ihm allein gelassen, er muss sich weiter
an ihm abarbeiten. Das könnte, meinen die Parteilenker, seiner Erziehung
zu einer allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit abträglich
sein.
Böttcher definiert die Probleme anders.
„Die gegenseitige Durchdringung der Ansprüche auf Vorherrschaft von Bild
und Originalton innerhalb eines Films steht für eine tiefere Dialektik.“
Um diese Dialektik geht es ihm, sie will er filmisch in Bewegung setzen – dabei
wachsam für den gesellschaftlichen Diskurs und empfänglich für
den individuellen Anspruch auf Glück. Exemplarisch wird ihm dies in WÄSCHERINNEN
(1972) gelingen. Hier reden junge Arbeiterinnen über ihren Alltag, ihren
Beruf, über die Liebe, über das Quentchen Glück, das sie sich
vom Leben erhoffen – und warum ihnen dieses Quentchen stets entwischt.
***
Zwölf Jahre nach den WÄSCHERINNEN
gelingt Böttcher mit RANGIERER (1984) fast so etwas wie ‚film pur’: ein
Stück absoluter Kunst, das seine ästhetische Energie freilich aus
der Beharrlichkeit des dokumentarischen Blicks gewinnt. Er dreht, wieder mit
Thomas Plenert, auf dem größten Rangierbahnhof der DDR, in Dresden-Friedrichstadt.
Eine ‚Arbeitswelt’, die Tag und Nacht von den Arbeitern Präzision, körperlichen
Einsatz und Reaktionsvermögen verlangt. Plenert dreht schwarzweiß,
auf besonders lichtempfindlichem Material, um in den Nachtszenen bei spärlicher
Beleuchtung die wie von Geisterhand bewegten
Güterzüge, die Handgriffe der Arbeiter beim Koppeln und Entkoppeln
der Waggons einzufangen. Im visuellen Bereich verlagert sich Böttchers
Aufmerksamkeit von der einzelnen Einstellung auf den ‚sinfonischen’, aus dem
Sujet entwickelten Rhythmus der Montage. Die Dialektik von Bild und Originalton,
ihr Kampf um die ‚Vorherrschaft’ kommt dabei nicht zum Stillstand, sondern zu
einer schwebenden, stets bewegten Balance. Ganz anders als zum Beispiel in den
WÄSCHERINNEN wird hier der Originalton nicht von der Sprache bestimmt –
es ist der metallische, harte, vom Poltern der Züge und Quietschen der
Bremsen begleitete Lärm der Arbeit, der mit der ruhigen Bildführung
im Widerstreit liegt. Es ist eine einsame, wortlose Arbeit; Sprache zieht sich
in vereinzelte Rufe, in kaum verständliche Anweisungen über die Lautsprecher
zurück.
Nicht nur die Ideologen der Partei, auch
die mit Büroklammern verstopften Hirne mancher Fernsehleute im Westen geraten
in Panik, wenn der belehrende, erklärende, zurechtrückende Kommentar
seinen Dienst einstellt und auch die Menschen vor der Kamera verstummen, sich
nicht redend, sonden durch die Gebärde, die Sprache ihrer Körper definieren.
Ein Film wie RANGIERER stürzt offenbar noch heute (oder: heute wieder)
manche Leute schlicht in Fassungslosigkeit. In zahlreichen Filmen, konstatierte
2008 der Interviewer in einem ZDF-Gespräch, habe Böttcher auf jeden
Kommentar verzichtet. Sei dies „Klugheit oder Feigheit“ gewesen? Böttcher
fällt es sichtbar schwer, seine Haltung zu bewahren, aber er ist zu höflich,
um das Studio zu verlassen. Wie soll er diesem Menschen erklären, was die
Qualität des Visuellen ausmacht? Was es bedeutet, filmische Bilder zusammenzufügen
– und sie zu lesen? Sehend zu denken und denkend zu sehen? Einen Gesichtsausdruck,
eine Handbewegung, die Stimmung einer Landschaft zu dechiffrieren? Sich auf
die Polyvalenz des Sichtbaren einzulassen, ohne sich im Beliebigen zu verlieren?
Ideologen und Bürokraten suchen nach
einer ‚Meinung’, um sie dingfest zu machen und den Menschen dahinter erforderlichenfalls
zu verhaften. Die Meinung, davon sind sie nicht abzubringen, drückt sich
verbalsprachlich aus, also in Worten, also im Kommentar. Bilder allein machen
ihnen Angst, sie sind vieldeutig, entziehen sich der erkennungsdienstlichen
Behandlung und verhalten sich sperrig gegenüber dem Protokoll. Wer Bilder
macht und den erläuternden Kommentar verweigert, hat etwas zu verschweigen;
zudem verführt er den Betrachter dazu, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Die eigenen Gedanken aber könnten falsche Gedanken sein. Das Problem ist:
als Ideologe oder Bürokrat weiß man das alles nicht so genau, und
‚nachweisen’ lässt sich gar nichts. Allzu viel Unwägbares, Gefährliches
ist hier im Spiel. Umgekehrt gilt: nur wer seine Bilder kommentiert, ‚versteckt’
sich nicht hinter ihnen (das wäre feige), sondern spricht aus, was er ‚denkt’
(das ist Mut).
Aber wie soll ein Dokumentarfilmer, der
seine Ausbildung an der Kunstakademie begonnen hat und das Verfertigen von Bildern
mit dem Verstand, den Emotionen und den Augen eines Malers betreibt, das Denkschema
im Kopf eines Ideologen oder eines Bürokraten verstehen? Hier – und wohl
nicht so sehr in ‚ideologischen Widersprüchen’ – ist das Anderssein des
Dokumentaristen Jürgen Böttcher begründet, seine Rolle als Dissident
in der DDR wie auch als Abweichler, als unbeugsamer und unbiegsamer Neinsager
in unserer auf Hochglanz getrimmten westlichen Fernsehwelt.
***
In den Jahren 1989 und 1990 wird das Glück neu definiert, gesamtdeutsch nunmehr und ‚multikulturell’: von den Reliquiensammlern und denen, die sie beim Sammeln fotografieren. In DIE MAUER sind türkische Jungs mit Hammer und Meißel unterwegs, japanische, schwedische, amerikanische Touristen mit ihren Fotoapparaten. Das Picken und Hacken der Meißel begleitet die Bilder, formiert sich zur Grundmelodie des Films. Amateure und Profis laufen mit geschulterten Filmkameras durch die Nacht am Brandenburger Tor. Bläuliche Lichtschneisen zerteilen die Dunkelheit, streifen schwere Gerätschaften, Bagger, Kräne und Abrissbirnen, die rund um die Uhr geräuschvoll ihre Arbeit verrichten, um die Hinterlassenschaft einer gescheiterten Politik abzutragen. Im Scheinwerferlicht gibt Richard Blystone für CNN sein Statement ab, viermal hintereinander, bis es im Kasten ist, es ist fast ein Gedicht: „…the gate going nowhere now goes somewhere, and all of these Germans know where it goes.“
Ein realer Alptraum wird entsorgt, aber
noch ist er allgegenwärtig, noch gibt er das neue, irreal wirkende Traumgelände
im Zentrum Berlins aus seinem Klammergriff nicht frei. Die Menschen, die Böttchers
Kamera streift oder denen sie ein paar Schritte folgt, scheinen sich ihrer Emotionen
nicht ganz sicher. Das Mikro fängt eher gedämpfte Töne, Wortsplitter,
halbe Sätze, kaum ein Lachen ein. Ein Reporter würde versuchen, die
Leute in Gespräche zu verwickeln, aber Böttcher ist Sammler, emsig
und sachlich klaubt er Bilder und Töne auf. Für die Tonspur sind Geräusche
– vielfältigster Art – wichtig geworden, und was Worte betrifft, interessiert
sich Böttcher inzwischen weniger für ihre Bedeutung als für ihren
Klang.
Eine Schwedin gibt einem Reporterteam
auf Englisch ein Interview, dann dreht sie sich um und blickt plötzlich
in Böttchers Kamera. „Where do you come from?“ – „From GDR.“ Ein kaum merkliches Zögern fliegt
über das Gesicht der Frau. Aber sie spricht auch Deutsch, kein Problem,
sie lächelt gewinnend, als erwarte sie nun das nächste Interview.
Die Ubiquität des Fernsehens hat längst die „Betroffenen“, die Leute
auf der Straße professionalisiert, aus Zuschauern bereitwillige Akteure
gemacht. Die Schwedin blickt weiter in die Kamera. Aber Böttcher fragt
gar nichts. Für welches Programm er arbeite, will sie wissen. Er mache
einen Dokumentarfilm, fürs Kino. Okay, sagt die Frau und ist ein bisschen
erstaunt. Dann geht sie weiter.
Jürgen Böttcher ‚verschwindet’
als Autor hinter den Bildern, wie nur sehr wenige, sehr souveräne Künstler
hinter ihrem Werk verschwinden. Gerade dokumentarisches Material provoziert
ja dazu, seiner vorgeblichen Authentizität eine individuelle ‚écriture’
einzuschreiben, in ihm lesbare Spuren von Autorschaft zu hinterlassen. Und gerade
die ‚teilnehmende Beobachtung’, die sich so viel darauf zugute hält, das
Tempo der Erzählung, den Rhythmus der Montage, den ‚Atem’ des Films an
die Menschen vor der Kamera zu delegieren, gibt oft mehr über den Autor
oder den Kameramann preis, als diesen bewusst sein mag.
Bei Böttcher ist dies anders. Er
verzichtet nicht nur auf jeden gesprochenen Kommentar und darauf, sich selbst
zu präsentieren. Er macht sich rar, das heißt hier: er bleibt uns
fremd. Nicht nur als Person, auch als Blickinstanz. Sein Blick auf die Szenen
der ‚deutschen Wende’ scheint aus einer großen Ferne zu kommen, als Fremder
durchstreift hier jemand ein fremdes Terrain. Auch als Fremder drängt er
sich nicht auf. Wie beiläufig zeigt er uns, was er gesammelt hat, mit einer
sehr großen Ruhe, die auch dann geduldig bleibt, wenn er nichts als Fernsehbilder
zeigen kann.
Am Silvesterabend 1989 wurde das Gelände
am Brandenburger Tor vom Fernsehen in Besitz genommen, das Medium machte die
feiernden Menschen zu seinen Statisten, und alles, was zu sehen war, hatten
die Fernsehkameras schon längst gefilmt. Böttcher hätte diese
Bilder herausschneiden können, aber dann hätte er sich selbst und
seine Zuschauer ein bisschen belogen. Das ist nun einmal der Stand der Dinge:
Ein großer Teil unserer Wirklichkeit ist Medienwirklichkeit. Es gibt auch
andere Bilder: wenn die Kamera dunkles, menschenleeres Brachgelände durchquert,
wenn in der Ferne vor schwachem Lichtschein die Silhouette des Brandenburger
Tors wie eine Ruine aussieht und das Verpuffen der Raketen zu hören ist,
könnte dies eine Sequenz aus einem geisterhaften, sehr unheroischen Kriegsfilm
oder einem traurigen Revolutionsfilm sein.
Und manchmal sind Installationen, mediale
Anordnungen notwendig, um der Lüge oder dem Verschweigen zu entgehen. Auf
das Chaos der Mauerinschriften, der bunten Graffiti wirft nachts ein rumorender
Projektor alte, zittrige Schwarzweißaufnahmen, Wochenschaubilder vom 13.
August 1961 – Panzer, Grenzpolizisten, Betonpfähle, Stacheldraht, die Amerikaner
am Checkpoint Charly, der Sprung aus dem Fenster an der Bernauer Straße,
Fassungslosigkeit hüben wie drüben: Mauer-Archäologie. Und in
einer späteren Sequenz: die Militärparaden des Kaiserreichs, die Fackelzüge
der SA, die Panzer der Roten Armee nach der Eroberung Berlins. Die in zahllosen
Fernsehdokumentationen verschlissenen Bilder – seltsam, wie nah und unverbraucht
sie hier wirken, als werde die Mauer unter dem Geräusch des Projektors
und der schleifenden Zelluloidrolle plötzlich transparent und zu einer
Architektur, die sich selbst, ihre Geschichte und Vorgeschichte, ihre überstrapazierte
Symbolik thematisiert.
***
In der Mitte des Mauerfilms gibt es eine
Liebesgeschichte im Schnee, und am Ende gibt es die Besichtigung eines Kunstwerks.
Die Liebesgeschichte entsteht aus dem Nichts und flattert ins Nichts zurück.
So etwas, wird Böttcher später sagen, sucht man nicht, man findet
es. Ins Visier der Kamera gerät – ‚unversehens’ – eine schöne junge
Frau, die mit einem jungen Volkspolizisten flirtet. Sie stammt aus Hannover,
das wird sie gleich dem Volkspolizisten verraten – und, ohne es zu wissen, auch
der Tonkamera. Der Polizist mit seiner Fellmütze nuschelt und berlinert
heftig, tritt von einem Bein aufs andere, schaut die schöne Frau an und
weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Ja, er hat Bekannte im Westen, bei
Münster. Sollte man nicht die Adressen tauschen, meint die junge Frau.
„Nicht gerade vor der Kamera“, sagt der Polizist, aber sie dreht sich schon
aus dem Bild, um einen Kugelschreiber zu holen, und in diesem Moment blickt
der Polizist direkt ins Objektiv. Abrupt wendet er der Kamera den Rücken,
als habe sie ihn in flagranti ertappt, ihn überrumpelt bei seinem Gedankenflug
zwischen Hannover und Münster.
Die Imprimatur hat Jürgen Böttcher
seinem Film als Maler erteilt. Die letzten sechs Minuten sind einem Stelenfeld
gewidmet – Betonplatten, die in die Winterluft ragen und dem Betrachter seltsame
Zeichen präsentieren: ‚Tags’, wie in der Graffitiszene die zackigen Schriftkürzel
heißen, und Malereien, die so aussehen, als habe sie ein Museum der klassischen
Moderne ins Freie gestellt. Gesichter in Picasso-Manier, garniert mit den Signaturen
der Pop art, verwoben mit abstraktem Linien- und Farbenspiel. Von westlicher
Seite aus wurde die Mauer als Projektionsfläche amorpher Träume bearbeitet.
Im Zuge ihres Abbaus präsentiert sie sich als utopische Werkstatt, die
in viele Bilderrätsel zerfällt. Die Kamera wandert sie in Nah- und
Großeinstellungen ab, verharrt auf Details und schwenkt im letzten Bild
vertikal nach oben, in kahle, knorrige Baumwipfel vor einem winterlichen Himmel.
***
Handelt DIE MAUER von Architektur und
Malerei, so macht KONZERT IM FREIEN, mehr als zehn Jahre später, Bildhauerei
und Musik zum Thema. Eine der längsten Rezensionen ist, grotesk genug,
auf der World Socialist
Web Site zu lesen, die
vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale herausgegeben wird. Einfühlsam
beschreibt der Autor den Film, um Böttcher am Ende streng ins trotzkistische
Gebet zu nehmen: „Warum geht der Regisseur, zehn Jahre nach dem Zusammenbruch
der DDR, über die beschränkte Symbolik eines kritischen DDR-Bürgers,
deren Verschwommenheit man heute sowohl gegen die SED-Bürokratie als auch
gegen den Sozialismus selbst interpretieren kann, nicht hinaus?“ Linken Sektierern
genügt nicht die Absage an den gescheiterten Sozialismus – sie verlangen
umgehend ein Bekenntnis zu ihrem eigenen Fetisch, zu ihrem Sozialismus als Idee.
Den Zensurstaat hat Böttcher hinter sich – nun belauern die Revolutionswächter
im Westen seine Schritte.
Es ist wahr: einer politischen Lektüre
erschließt sich KONZERT IM FREIEN als Abschied nicht nur von der „SED-Bürokratie“,
sondern auch von jenem Lenin/Stalin/Trotzki-Sozialismus, dem der Bildhauer Ludwig
Engelhardt mit seinem Marx/Engels-Monument am Alexanderplatz ein Symbol gesetzt
hat. Aber Böttcher verdammt weder das Kunstwerk noch die beteiligten Künstler.
Er zeigt den Hervorbringungsprozess (hier ist dieses Wortmonstrum gerechtfertigt)
eines künstlerischen Produkts – und er zeigt, was man unter gewandelten
Bedingungen mit dem fertigen Produkt anfangen kann.
Seit 1974 hat sich Engelhardt an seinem
Staatsauftrag verausgabt, und seit Anfang der achtziger Jahre hat ihn Böttcher
im SED-Auftrag als Dokumentarist begleitet. 1986 wurde das Denkmal eingeweiht.
Es hat die Wende überlebt und fügt sich nun, neben den Hinterlassenschaften
aus dem Wilhelminismus und der nationalsozialistischen Ära, in das opulente
Geschichtspanorama der deutschen Hauptstadt ein. Böttcher der Sammler hat
ins Archiv gegriffen, die alten Aufnahmen hervorgeholt und sie in einen neuen
Kontext gestellt.
Marx sitzt, Engels steht neben ihm, beide
gravitätisch, in Bronze und knapp vier Meter hoch. Im Hintergrund der ehemalige
Palast der Republik, der Fernsehturm am Alexanderplatz, das Rote Rathaus, Marienkirche,
Lustgarten und Dom. Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, die
einmal die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen wollten, ragen
nun selbst wie Versteinerungen in die Luft, von einschüchternder Starrheit,
in der Ruhepose wie blockiert und für alle Zeiten stillgestellt. Eine „intensive
Raumzone“, sagt Engelhardt, musste damals für die Figuren geschaffen werden;
ein 360 Grad-Schwenk der Kamera, der sich mehrfach wiederholt und, forciert
durch Reißschwenks, zu einer Art Karussell-Effekt steigert, stellt die
Raumzone und ihre sehr heterogenen Bauten vor. Sie ist der einzige Schauplatz
dieses Films: das Marx-Engels-Forum im Jahre 2001. Das einmontierte Archivmaterial
bildet eine Art Interlinearversion.
In den Archivaufnahmen ist Engelhardt
bei der Arbeit zu sehen, wie ein feinsinniger Maskenbildner bosselt er gerade
an Engels’ mächtiger Barttracht herum. Von einem erhöhten Liegestuhl
aus begutachtet er sein Werk aus der Distanz. Sicher war, „dass man keinen großen
Gegenstand dort hinstellen kann“. Marx und Engels sind immerhin so groß,
dass man sie für den Transport in die Gießerei auseinandernehmen
muss. Engels wird in Brusthöhe zersägt; wenn er später in Bronze
am Seilzug eines Krans schräg über dem Forum hängt, sieht es
aus, als sei Barlachs Engel in Berlin eingeschwebt. Mag sein, dass Böttchers
Auftraggeber an diesen und ähnlichen Bildern Anstoß genommen haben
– zu einer Veröffentlichung seiner Dokumentaraufnahmen kam es vor 1989
jedenfalls nicht.
Engelhardt ist eher schweigsam, im Gegensatz
zu seinem Kollegen Werner Stötzer, der auf Rügen, ebenfalls für
das Forum, aus bulgarischem Marmor die Reliefwand Alte Welt erstellt: Lebensformen
und Produktionsweisen im frühen Kapitalismus. „Man muss nicht Inhalt machen,
sondern Form“, sagt Stötzer und erläutert wortreich, wie aus der Steinmasse
mit ihren konkaven und konvexen Teilen eine plastische Gestalt entstehen kann.
***
Man kann nicht behaupten, Böttcher
habe damals auf die dokumentarische Beobachtung künstlerischer Arbeit sehr
viel Hingabe verwandt. Womöglich war ihm ähnlich zumute wie Stötzer,
der nach getaner Arbeit vor seinem Relief sitzt, raucht und melancholisch trällert:
„Ich bin müde und möchte gern an Land…“ Kohärente Bilder aus
einem Schaffensprozess entstehen aus dieser nachträglich vorgenommenen
Collage jedenfalls nicht, eher Schnappschüsse, die einige bizarre, ans
Surreale grenzende Momente akzentuieren. Das gilt auch für die spärlichen
Aufnahmen aus der Gießerei, in der das Denkmal seine endgültige Form
erhält. Die zum Forum-Ensemble gehörenden Stelen aus Edelstahl mit
ihren eingravierten Fotos, Ikonen aus der Geschichte der Klassenkämpfe,
werden von Plenerts Kamera pietätvoll abgeschwenkt. Doch das Gespräch,
das der Fotograf Arno Fischer und der Regisseur Peter Voigt, zwei der beteiligten
Künstler, über den Konflikt zwischen Stahl und Fotografie führen,
ist seltsam uninspiriert. Betrachtet man Böttchers Aufnahmen aus den achtziger
Jahren als Dokumente, so sagen sie wenig über den Gegenstand, um so mehr
über die Arbeitsbedingungen und Gemütsverfassung des Autors aus.
Ein Film über Bildhauerei und Musik?
Wohl eher einer, in dem Skulptur und free jazz, Bild und Sound zwei Linien bilden,
zwei Parallelen, die, im streng mathematischen Sinn, sich im Unendlichen schneiden.
Über weite Strecken sind die musikalischen Akteure Günter Sommer und
Dietmar Diesner auch im Bild präsent. Die Tonspur, die außer den
Archivaufnahmen den gesamten Film grundiert, bildet jedoch eine autonome Qualität.
Sie formuliert einen eigenen Sinntext, der den im Bild versammelten Kunstwerken
ein Pro oder Kontra verweigert, sie weder ‚illustriert’ noch ‚kommentiert’,
weder eine Paraphrase noch einen Gegensinn zum Sichtbaren erstrebt. Das macht
die Rezeption zur Anstrengung, weil wir im Kino gelernt haben, stets nach Beziehungen
zwischen dem Auditiven und dem Visuellen zu suchen.
Böttcher experimentiert mit Nicht-Beziehungen;
er will herausfinden, was geschieht, wenn zwei Jazzer auf dem Marx-Engels-Forum
musizieren. Er vermeidet es dabei sorgsam, identitätsstiftend einzugreifen,
Analogien zu konstruieren. Ein Saxophonist und ein Schlagzeuger gehen schmetternd,
scheppernd, rasselnd, knatternd, zirpend, quietschend ihrer Arbeit nach. Weder
die heraufziehende Nacht noch Regen oder Gewitter stören ihr Programm.
Ob ihre Improvisation das Ohr der revolutionären Vordenker erreichen, gar
ihr Gefallen finden würde? Die Frage stellt sich nicht. Nur einmal deutet
sich so etwas wie eine Annäherung an: wenn Sommer den Metallsockel zwischen
Marxens Füßen, dann die Füße selbst mit zwei Hämmern
bearbeitet und Diesner, jetzt Klarinette spielend, sein Saxophon Engels zu Füßen
legt. Ist das nun eine Widmung? Eine Opfergabe? Eine Aufforderung zum Tanz?
Die Gesten unterstreichen eher die Einsamkeit der monumentalen Figuren – und
zeigen, dass zwischen ihnen und der Musik kein Dialog besteht.
Erst mit der Besiedelung der „intensiven
Raumzone“ durch Passanten, Touristen, Inline-Skater und Schnappschussjäger
erreicht der Film einen ‚Flow’, gewinnt Dynamik und deutet die Möglichkeit
flüchtiger Beziehungen an. Wie zufällig herangeweht treiben Menschen
über das Forum, geraten in den Bannkreis des Denkmals oder in den Sog der
Musik. Auf dieser Ebene baut Böttcher eine sukzessive Steigerung auf, eine
Entwicklung, die verhalten beginnt: eine Fahrrad-Rikscha kurvt scheu im Hintergrund
und verschwindet wieder aus dem Bild, ein blondes Mädchen schmiegt sich
unschlüssig zwischen die Beine von Karl Marx. Allmählich promenieren
Familien unter Bäumen, Touristen mit Rucksack zücken ihre Fotoapparate,
Liebespaare posieren vor dem Monument, man fotografiert sich gegenseitig, ein
junger Mann reckt versuchsweise den Arm zum proletarischen Gruß, ein junges
Mädchen klettert auf das Denkmal und legt Marx vertrauensvoll den Arm auf
die Schulter. Gegen Ende ist die Plattform von einer Schar Jugendlicher besetzt.
Manchmal dringt eine Stimme durch, aber
die Musik bleibt dominant; Böttcher hat in der Tonmischung die Außen-Atmo
nahezu auf null reduziert. Das verleiht den belebten Szenen eine eindringliche
‚Stummheit’ – zugleich eine Leichtigkeit, die in den kontinuierlichen Kameraschwenks
das architektonische Ensemble, das Denkmal und die flanierenden Menschen in
einen jazz-gestützten, vergnüglichen Schwebezustand
versetzt. Das Marx-Engels-Forum zu Berlin ist benutzbar geworden. Man kann etwas
mit ihm anfangen.
Klaus Kreimeier
Dieser
Text ist ein Vorabdruck aus: Ebbrecht,
Tobias / Hoffmann, Hilde / Schweinitz, Jörg (2009): DDR
Erinnern Vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg:
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